Das vergebliche Warten auf eine Sternstunde


„Immer sind Millionen Menschen innerhalb eines Volkes nötig, damit ein Genius entsteht, immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, eher eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt. Entsteht aber in der Kunst ein Genius, so überdauert er die Zeiten; ereignet sich eine solche Weltstunde, so schafft sie Entscheidung für Jahrzehnte und Jahrhunderte.“ (Stefan Zweig)

Ich verfalle zunehmend in Verzweiflung. Um mich herum hängt lahm in der Luft der alte Trott der Menschen; keine Sterne, keine Sternstunden steigen in dieser vernebelten Starre empor. Großstädte zauberten ihre Sterne mit Smog weg; die Menschen versteckte man in Fabriken und in hermetisch gesicherte Labors – angeblich, um an der nächsten Sternstunde der Menschheit zu arbeiten. Wir rennen voller Sorgen durch die Gegend, wir sind kraftlos und desinteressiert. Wir sind benebelt vom blau-weißen Zigarettendunst, der uns an der Seele kratzt und uns den Rest unserer Vitalität raubt. Unsere Sterne scheinen für eine Weile hochzusteigen, wenn wir ihnen mit Alkohol und Psychopharmaka zur Leichtigkeit verhelfen. Sie fallen dann jedoch abrupt in die tiefsten Tiefen der Stumpfheit. Wir haben die Reize für unsere Entwicklung noch nicht gänzlich verloren; wir stumpfen sie jedoch ab, in dem wir mit Hilfe von Internetsuchmaschinen das finden, wonach wir suchen. Diese Suchmaschinen bieten uns lediglich unsere Meinung an; sie widersprechen uns nicht; sie zweifeln nicht; sie eröffnen uns nicht neue Horizonte, die so überlebenswichtig wären. Wir töten die Potenziale der Menschen mit Technik, mit Fortschritt ab und warten vergeblich auf eine zumindest klitzekleine Sternstunde der Menschheit. Wir fassen schon lange keine Sterne mehr an, weil sie uns so weit erscheinen, oder wir sehen kaum ihr Licht. Wir schauen oft nicht mal hin. Wir sind zufrieden, bewegungslos. Wir haben uns für Jahrzehnte in unseren Komfortzonen eingerichtet – wartend auf unser Rentneralter. Wir brechen manchmal aus – zu den anderen, die die Hoffnung noch nicht aufgaben, aber kehren viel zu schnell in unser Nichtstun zurück. Wir sind gogolsche tote Seelen. Mit uns wird gehandelt; wir werden in Statistiken eingetragen; wir werden abgeschrieben, abgeschoben und abtransportiert. Uns werden die Sternstunden vorgelogen – von den Medien, von der Regierung und von den geposteten Bildern in den sozialen Medien. Wir tun so, als wäre es normal, als wäre es unsere Sternstunde der Menschheit. Wir befinden uns im freien Fall und denken immer noch, dass wir uns in der Sternstunde der Menschheit aufhalten. Wir tragen in uns Sterne, aber wir sind nicht fähig diese aus unseren Köpfen rauszureißen und leuchten zu lassen. Wir sind tote Seelen inmitten der scheinbaren Sternstunde der Menschheit.

4 Kommentare

  1. Hallo Martin,
    ich kann viele deiner Gedanken sehr gut nachvollziehen.
    Ich selbst verzweifel nur zu oft an der unreflektierten Masse: Ignoranz, Egoismus, Selbstherrlichkeit, Trägheit, Profitgier, Ausbeutung, Gleichgültigkeit …
    Und doch, auch wenn ich mich zu den wenigen Menschen, die ausbrechen gerne zählen würde, kämpfe ich in diesem geschaffenen Weltbild. Niemand ist wirklich frei – wir sind alle direkt oder indirekt in diesem System eingebunden – ob wir das möchten oder nicht.

    Den meisten Menschen geht es zu gut.
    Das beruhigende, die Erde war schon vor uns da und sie wird uns sicherlich auch überleben, die Frage ist in welchem Zustand.
    Esther

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  2. Hallo Martin,
    ein schöner Text, jedoch sind die Menschen nicht bewegungslos, weil sie zufrieden sind, sondern weil sie der Meinung sind es nicht sein zu können. So fahren sie immer mit Scheuklappen in eine Richtung, um das nächste grosse Ziel möglichst schnell zu erreichen, wo dann doch nur der nächste Richtungsweiser wartet.

    Den Menschen werden immer hellere, schönere Sterne versprochen, so dass blind losgelaufen wird ohne mal anzuhalten und sich umzuschauen. Dann würden die ganzen Blinden erkennen, dass die hellsten Sterne in und neben ihnen bereits leuchten. Wenn die meisten erkennen würden, dass wir genug haben und zufrieden sein können, würden nachts die Lichter aus bleiben und alle gemeinsam in den Himmel starren..

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