Der Kronprinz Julien/Teil III.

Als ich mich mit dem Gedanken abfand, dass ich noch von Julien irgendwann hören werde, erreichte mich ein Brief, der mit einem königlichen Siegel versehen war. Ich wusste sofort, dass es ein Brief von meinem lieben Freund, dem Kronprinzen Julien, sein muss. Ich öffnete den Brief behutsam, obwohl ganz ungeduldig, auf und ich konnte kaum meine Freude verbergen, weil ich sofort seine schöne Schrift erkannte. Er schrieb:

Mein allerliebster Freund Jaque,

es sind viele Jahre vergangen und ich habe viele Tage an Sie gedacht. Ihre letzten Schreie klingen mir noch heute im Kopf: “Lauf, Julien, lauf…!”, haben Sie gerufen und mich dabei ermutigt, meinen Weg zu gehen. Ich bin gelaufen, “denn wie unser physischer Weg auf der Erde immer nur eine Linie, keine Fläche ist; so müssen wir im Leben, wenn wir Eines ergreifen und besitzen wollen, unzähliges Anderes, rechts und links, entsagend, liegen lassen. Können wir uns dazu nicht entschließen, sondern greifen, wie Kinder auf dem Jahrmarkt, nach Allem was im Vorübergehen reizt; dann ist dies das verkehrte Bestreben, die Linie unseres Wegs in eine Fläche zu verwandeln: wir laufen sodann im Zickzack, irrlichterlieren hin und her und gelangen zu nichts.” Erinnern Sie sich, mein Liebster, an Schopenhauer, der in meinem Kopf herumschwirrte? Er, der dunkle Geist, war mein Wegbegleiter. Er hat seine “Eudämonologie” aus seinem Misserfolg erschaffen. Die Auseinandersetzung mit Hegel hat ihm in Berlin fast das Genick gebrochen und doch rappelte er sich auf und beschäftigte sich fortan mit dem Glück.
Mein lieber Freund, ich lief so schnell, um meine Mutter retten zu können; ich lief, um mich von meinem Leiden zu befreien. Ich dachte an Schopenhauer und es wurde mir klar, dass man der Sinnlosigkeit und der ganzen Ausweglosigkeit im Leben entkommen kann, in dem man Kunst schafft. Wie viele Dichter, Denker, Maler und Musiker sind aus der bitteren Stunde der Grausamkeit, des Leidens und der Schmerzen geboren, um einen Weg zu bestreiten – in den Höhen des Geistes und der schöpferischen Extase?! Ich wollte es wagen, meine Mutter durch Kunst zu heilen. Ach, wie nötig hatte Sie es, und wie nötig war es für das Wiedererlangen von meinem Lachen! Wie bitter nötig hatte es mein schönes Land!
Als ich nach Hause kam, begegnete ich meiner Mutter in einem dunklen Zimmer. Sie hat bitterlich geweint und ihr einst so gütiges Gesicht war von Schmerzen gezeichnet. Ich habe sofort die dicken dunklen Vorhänge beiseite geschoben und zögerte keine Sekunde und rollte die mitgebrachte Leinwand auf. Ich habe sie an die Wand gehängt und dann habe ich meine Mutter gebeten, mit mir ein Bild zu malen. Zuerst fragte sie mich zögerlich, was das bedeutet, aber dann ließ sie sich darauf ein. Ich habe ihr gesagt, dass wir zuerst zusammen alles, was in unserem Leben so schlecht, so traurig und so schmerzvoll war, malen werden. Wir haben alles gemalt; alles, was unsere Seelen so bitterlich weinen ließ; alles, was unser Leben beinahe zerstört hätte, wäre ich nicht gekommen. Dann ließen wir unser Bild etwas trocknen, während wir einen Tee, den ich immer noch nach Anweisungen meiner klugen Oma selbst sammle, tranken. Als das Bild trocken war, forderte ich meine Mutter auf, weiter zu malen. Nun übermalten wir das dunkle traurige Bild unserer Vergangenheit mit bunten Farben des Glücks. WIr malten alles, was uns Freude bereitet; alle unsere Träume und unsere Vorstellungen über das Leben und die Welt verwirklichten wir auf unserem Bild. Wir haben etwas unglaublich Schönes und Strahlendes erschaffen und begannen nach und nach zu lachen, uns zu freuen und sogar getanzt haben wir, mein Liebster. Meine Mutter lachte wieder so schön und lief in den Garten. Ich öffnete das Fenster und sie rief: “Julien, hast du nicht noch eine Leinwand? Ich möchte hier im Garten, diesen Wunder der Natur malen; ich will das Glück jeder einzelnen Blume darstellen…”
Als meine Mutter mit ihrem eigenem Bild fertig war, trat ich zu ihr in den Garten und bewunderte ihr Werk. Sie umarmte mich und begann zu rezitieren: “Marina, für immer meine, so sind wir, wie die Blumen auf der kalten Erde, wie die Flammen Gottes, wie Edelsteine sind wir. Die Blumen welken, auch wir verwelken, die Sterne fallen, auch wir werden fallen und das Herz bewahrt die Edelsteine auf…” Sie trug das ganze Gedicht vor, dass sie mir einst beigebracht hatte und fragte mich, mein Schulwettbewerb damals ausgegangen ist. Als ich ihr davon berichtete, blieb sie sehr nachdenklich. Sie schlug vor, dass wir ab jetzt neue Gedichte lernen werden und sie gemeinsam in unserem schönen Garten vortragen. “Und du musst mir unbedingt jetzt und hier dein deutsches Lieblingsgedicht vortragen!”, sagte sie. Ich legte sofort los: “Sein Blick ist von Vorübergehen der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe, und hinter tausend Stäben keine Welt…” Sie staunte, sie lachte und sagte: “Ach, so eine wundervolle Melodie aus deinem Mund, mein Sohn!”
Ich zeigte ihr auch Bilder von meinem schönen Garten mit den vielen Kopfsalaten und Tomaten. Sie hielt jedes Bild minutenlang in ihren Händen, schweigend, sich vielleicht auch mit viel Demut fragend, wieso sie nicht die ganzen Jahre von meinem Garten wusste. Sie schlug dann vor, dass wir unbedingt einen Gemüsegarten anlegen müssen, in dem ich meine Liebe zur Natur ausleben kann.
Mein liebster Freund, die Veränderung im Denken und Handeln meiner Mutter waren etwas Unglaubliches. Sie strahlte und verbreitete viel Freude überall, wohin sie ging. Es kamen wieder Leute in unser Haus und meine Mutter begann mit ihnen zu sprechen, sich für ihre Sorgen zu interessieren. Und es kamen auch Leute aus anderen Ländern und baten sie um Hilfe. Ohne zu zögern, nahm sie jeden auf, nicht schauend, woher er kam und welche Hautfarbe er hatte. Unser Königreich war plötzlich wie verwandelt. Es war ein schöner Ort, ein lebenswerter Ort.
Als ich diese Veränderungen sah, wusste ich, was ich zu tun habe. Eines Tages trat ich in den Garten und fand meine Mutter dort. Sie malte gerade die ersten Frühlingsblumen, die überall aus der Erde sprossen. Ich sagte zu meiner Mutter: “Mama, ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben. Sie haben mich auf einen schwierigen Weg geschickt; sie haben mir vieles gegeben. Sie haben mich allerdings auch sehr traurig gemacht. Aber nun machten Sie mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Sie haben wieder in Ihnen die Schönheit und die Gütigkeit entdeckt. Sie haben dieses Leid von Schmerzen befreit. Sie haben meine Seele von Schmerzen befreit. Liebe Mutter, ich bitte Sie, geben Sie mir Ihre Krone. Nun bin ich bereit, Ihr Lebenswerk weiter zu führen. Nun kann ich diese Krone tragen, die ich stets abgelehnt habe. Erlauben Sie mir, das Glück unseres Landes weiter zu vermehren.” Darauf umarmte mich meine Mutter und ich sah zum ersten Mal ihre Tränen des Glücks. Sie flossen in Strömen dahin, sie tränkten alle Frühlingsblumen unseres Gartens und zauberten ein Frühlingsmeer von Glück, von tausenden Farben der Hoffnung.
Mein allerliebster Freund, Jaque, ich möchte Sie herzlichst einladen, in mein Land zu kommen. Ich werde nächste Woche in der Kathedrale von Sankt Martin die Krone meiner Mutter übernehmen. Ich wäre so glücklich, wenn Sie dabei sein könnten. Sie haben mich ermutigt zu laufen, zu rennen – zu meinem Lauf zum Glück. “Lauf Julien, lauf…!”, haben Sie gerufen. Ihnen, mein Liebster, danke ich für Alles.

In Verbundenheit und Freundschaft

Julien

Ich las den Brief zu Ende und erfreute mich sehr an Juliens Worten. Ich packte sofort meinen Koffer und brach auf.

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