Die Frau hinter den roten Fensterläden

Hinter einem Fenster mit roten Fensterläden sitzt eine ältere Frau und schaut sich die vorbeigehenden Pilger an. Es sind ganz viele, die jeden Tag an ihrem Fenster Richtung Santiago vorbeiziehen. Sie schaut ihnen konzentriert zu; sie beobachtet ganz genau ihre Gesichtszüge und ihren Laufstil. Sie versucht, ihre Schmerzen zu erahnen; sie bemüht sich, ihre Lebensgeschichten zu entschlüsseln und ihre Hoffnungen zu verstehen. Mit ihrem Blick feuert sie jeden einzelnen Pilger an; sie nickt jedes Mal freundlich mit ihrem Kopf und mit ihren strahlenden Augen begrüßt sie jeden, der an ihrem Fenster vorbei geht. Sie dreht ihren Kopf gegen Westen; dahin laufen sie alle, dahin wollen sie alle – nach Santiago. Sie erlebt mit jedem Pilger das, was sie auch einmal selbst gern erleben würde – einfach losziehen, laufen, die Freiheit spüren, die Müdigkeit und allerlei Schmerzen überwinden, sich selbst besser kennenlernen. Sie hofft für sie, betet für sie, begleitet sie in ihren Gedanken bis nach Santiago.

 

Ich lief heute auch an ihrem Fenster vorbei. Ich wurde sofort auf sie aufmerksam. Ihr Blick verzauberte mich und traf sofort mein Herz. Sie lehnte sich aus dem Fenster und rief mir zu: “Buen Camino!” – “Einen guten Weg!”. Dann fügte sie ganz leise zu: “ Peregrino, camina por mí también!” – “Pilger, lauf für mich auch!” Ich blieb überrascht stehen und fragte sie, warum ich für sie laufen solle? Sie antwortete ganz leise: “Es que yo no puedo caminar, estoy atada a esta silla de ruedas…” – “Ich kann nicht laufen, ich bin an diesen Rollstuhl angekettet…” Ich wusste nicht, was ich sagen soll, aber sie befreite mich von einer Antwort, indem sie die roten Fensterläden ihres Fensters zuklappte. Ich konnte nur ihre tränenden Augen sehen.
Wir liefen heute aus Rencesvalles nach Larasoaña (27,5 km). Nach dieser Begegnung hörte ich verstärkt auf meinen Körper, weil ich es schaffen muss, bis nach Santiago zu laufen. Die Begegnung mit der Frau hinter den roten Fensterläden verpflichtet mich nun weiter zu laufen, nicht aufzugeben, an mein Ziel anzukommen. In Santiago werde ich an sie denken. Ich laufe für sie und für viele Menschen, die nicht laufen können.

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