Die kleine Quelle

Er lief auf dem frisch gefallenen Schnee Richtung Wald. Die Schneedecke war an jenem Tag majestätisch und ließ ein nur langsames Vorankommen erahnen. Sehr beschwerlich kam er voran und er hinterließ im Schnee tiefe Spuren hinter sich. Er traf keinen einzigen Menschen auf seinem Weg. Dieser Umstand überraschte ihn kaum. Wie gern wäre er in den Spuren eines anderen Menschen gelaufen, um schneller voranzukommen. So stampfte er seine eigenen Spuren in den Schnee und bildete sich ein, dass bald einer durch diese Spuren viel leichter laufen würde und auch sein Rückweg ein leichterer sein wird. Er ahnte nicht, dass er einen anderen Rückweg antreten wird.

Der Wald kam immer näher und man konnte schon seine Dunkelheit erahnen. Er quälte sich durch den tiefen Schnee sein Ziel verfolgend.

Und dann – bei der ersten Tanne angekommen, sah er plötzlich viele Menschen, die auf einem schon ausgetretenen Pfad liefen. Sie liefen hintereinander. Überraschend diszipliniert sah diese Menschenformation aus. Sie schien das natürliche Gebilde des Waldes zu stören. Er zögerte zunächst, aber dann entschied er sich einzureihen. Im Schnee steckten verschiedene Fahnen und jeder nahm sich eine und schwenkte mit ihr in der Luft. Auch Geldscheine lagen auf dem frischen Schnee und jeder bückte sich und nahm so viele wie möglich. Abzeichen und Urkunden lagen ebenfalls dort und jeder nahm gleich mehrere mit. Nur das Glück, die Weisheit und der Wille hingen viel weiter von dem ausgetretenen Pfad, oben in den Bäumen und keiner wagte sich auszutreten und nach ihnen zu greifen.


Er lief noch eine Weile in dieser gradlinigen Formation – schweigend und alles beobachtend. Er griff weder nach einer Fahne noch nach einem Geldschein. Auch das Glück, die Weisheit und den Willen ließ er dort abseits hängen.

Irgendwann merkte er, dass diese Menschen in einem Kreis liefen. Der Pfad im Schnee war kreisförmig ausgetreten und keiner traute sich, ihn zu verlassen, oder wollte ihn und konnte ihn nicht verlassen.

Irgendwann liefen sie an der kleinen Wasserquelle vorbei, die sein Ziel war. Er wunderte sich, dass keiner von diesen Menschen einen kleinen Abstecher zu der Quelle machen wollte. Sie liefen einfach weiter, ihrem Pfad folgend.

Er verabschiedete sich von der vor ihm laufenden Frau und dem hinter ihm laufenden Mann und trat aus – in den tiefen Schnee Richtung der kleinen Quelle. Die auf dem Pfad laufenden Menschen wunderten sich über seinen seltsamen Austritt aus der Formation. Er wunderte sich ebenfalls, dass keiner ihm folgen wollte. Glaubte wirklich keiner, dass aus dieser Wasserquelle ein alles heilendes Wasser sprudeln könnte? Glaubte wirklich keiner, dass das Wasser dieser Quelle den Weltschmerz lindern würde? Er war sich ebenfalls nicht sicher, was dieses Wasser bewirkt. Trotzdem wollte er nicht jenen Menschen folgen. Er wollte es zumindest wagen, dieses Quellwasser zu trinken und dem Wunder der Natur und dieser Welt eine kleine Chance geben.

Er lief vorsichtig die kleine Serpentine runter – dorthin, wo die kleine Quelle ihre Waldesstille genoss. An der Quelle angekommen, trank er lächelnd das Wasser und mit ihm das Glück, die Weisheit und den Willen. Auch Hoffnung trank er. Seine traurigen Gedanken verschwanden, seine Schmerzen wurden milder und das Gute der Welt breitete sich in seinem Körper aus.

Darauf setzte er sich in den tiefen Schnee, schloss die Augen und verließ für immer den ausgetretenen Pfad des Waldes und seines Lebens.

Ein Kommentar

  1. Ja, wir müssen die ausgelatschten Wege verlassen, die Autobahnen mit den festen Leitplanken… Der Mainstream ersetzt das Denken und das Suchen nach dem richtigen Weg nicht. Wir dürfen uns aber auch nicht frustrieren und unterkriegen lassen, wenn wir uns allein auf dem Weg wähnen. Nur so können wir die Quelle des Lebens finden. Danke für den Text!

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