Ich habe Angst

Ich habe Angst. Ein offener Brief an die Politik

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Steinmeier, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz, sehr geehrte Damen und Herren im Deutschen Bundestag,

ich wuchs zehn Kilometer entfernt von dem kleinen Flughafen namens Sliač in der ehemaligen Tschechoslowakei auf. Damals, Anfang der 80er Jahren, ich als kleines Kind, wäre ganz glücklich, wenn dieser kleine Militärflughafen weit weg von meinem Wohnort gewesen wäre – weit weg von meiner unbeschwerten Kindheit. Jeden Tag starteten und landeten sowjetische Kampfflugzeuge und überschallten somit mein Glück. Ich hatte Angst vor einem Krieg. Wenn ich den Lärm der Flugzeuge hörte, deckte ich mir jedes Mal mit meinen kleinen Händen beide Ohren zu, um jenen drohenden Lärm nicht zu hören. Jedes Mal dachte ich, es schlüge gleich eine amerikanische Atomrakete in meine Nähe ein. Ich lebte in Angst und ich lebte im Stress. Damals erklärte man uns – wir wären die Guten und die Anderen die Schlechten. Heute weiß ich, dass keiner besser war als der Andere.

Dann kam die Zeit, als dieser kleine Flughafen zu einem Zivilflughafen umgebaut wurde. Die Menschen konnten plötzlich in ihr Urlaubsglück fliegen. Und der Flugzeuglärm klang plötzlich anders. Er fühlte sich sogar gut an. Er verbreitete sogar Hoffnung und Zuversicht für die Menschen dort.

Heute will ich euch über den gleichen Flughafen Sliač schreiben – aus dem wieder das geworden ist, was ich nie für möglich gehalten hätte. Herr Steinmeier, sie waren jetzt gerade dort. Sie standen auf dem Boden meiner früheren Ängste. Sie standen aber auch auf dem Boden meiner späteren Hoffnungen. Haben Sie die friedlichen Berge am Horizont über Banská Bystrica gesehen? Haben Sie den kleinen Kurort Sliač gesehen? Die alten Bäume des Kurparks, das kleine Wasserbecken mit seinem minerlhaltigen Wasser? Haben Sie gespürt die Ruhe der Landschaft? Haben Sie mit den Menschen über ihre Ängste gesprochen oder waren Sie komplett abgeschirmt vom Leben, von Ängsten, von Hoffnungen dieses Landstriches? Was haben Sie mir zu berichten? Starten und landen dort bereits wieder Kampfflugzeuge, oder ist alles erst in der Vorbereitung? Wo schlafen die Hunderten NATO-Soldaten? Wie ist die Stimmung dort – bedrohend, entspannt oder am Kipppunkt? Wissen Sie, was die Menschen dort sagen? Wissen Sie, was die Menschen bei uns sagen? Wissen Sie, was sie fühlen, wie sie denken, wie sie leben wollen?

Ich habe Angst. Und Angst hat auch meine alte Mutter. Sie lebt dort – zehn Kilometer entfernt von diesem Säbelrasseln. Sie kann nicht mehr weggehen. Sie will nicht mehr weggehen. Haben Sie sich, Herr Bundespräsident, Herr Bundeskanzler und Sie – Damen und Herren im Deutschen Bundestag gefragt, was Sie meiner Mutter antun? Was Sie mir antun? Und was Sie Millionen Menschen in der Welt antun?

Ich habe Angst. Ich habe nicht mehr Angst wie ein kleines Kind vor dem bösen Feind. Ich habe Angst vor Ihrer Politik. Und das Wort „Ihre“ kann ich nicht genau definieren, wer das „Ihr“ ist. Es ist auch unmöglich auf jemanden mit dem Finger zeigen und es hat keinen Sinn nach einem Schuldigen zu suchen. Es hat in dem Moment keinen Sinn, in dem der gemeinsame Dialog verschwunden ist.
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Aufgabe der Bundesrepublik dafür zu sorgen, dass nie wieder ein Krieg ausbricht. Es war immer die Aufgabe der deutschen Politiker für einen friedlichen Dialog zu sorgen und eine Vermittlerrolle anzunehmen. Es war stets Gang und Gebe zu denken, zu hinterfragen und besonnene Entscheidungen zu treffen. Nun scheint es mir kamen Zeiten, in denen neue Dogmen entstehen. Zeiten, in denen jeder Dialog unmöglich wird. Man schreit nach einem Dialog und gleichzeitig beharren die Schreienden auf ihren unerschütterlichen Aussagen. Es sind Zeiten gekommen, in denen wir erlauben, dass man auf unserer ehemaligen Kanzlerin herumhackt, Zeiten, in denen man die Existenz und Würde unseres ehemaligen Bundeskanzlers Schröder zu zerstören versucht.

Eine Neue Realität haben Sie ausgerufen. Diese Neue Realität fiel jedoch nicht an einem einzigen Tag vom Himmel. Auch Sie sind die geistigen Eltern dieser Neuen Realität.

Ich habe Angst. Ich habe Angst – und Sie suchen keinen Dialog mit Russland. Sie treiben den Konflikt an, indem Sie blind unsere westlichen Werte als Schutzschild Ihrer Handlungen in den Vordergrund stellen. Ich als Europäer, ich als Mensch – teile nicht diese Werte mit Ihnen. Meine Werte in dieser Neuen Realität sind Dialog, aufeinander zugehen, den Anderen auch zu verstehen versuchen. Meine Werte sind nicht die Drohungen, die Anfeindungen, die Waffenlieferungen und schon gar nicht Ihre Maßnahmen der Abschreckung, der Stärke zeigen und der Machtausübung. Meine Werte sind auch der Opposition zuzuhören, von unseren beiden Altkanzlern zu lernen und nach der Hand des Anderen zu suchen und ihm die Hand anzubieten. Auch mitten in einem Konflikt ist es möglich.
Ich bitte Sie! Stoppen Sie diesen Wahnsinn, der so präsent ist. Ich bitte Sie! Stoppen Sie die Waffen, die Sie in den Krieg liefern. Bitte handeln Sie mit allen Ihren diplomatischen Möglichkeiten. Bitte vergessen Sie die Wörter wie Macht, Stärke und Schuld. Bitte, wagen Sie einen Neustart für Europa und für die ganze Welt. Bitte, handeln Sie im Sinne der Menschheit und nicht im Sinne der Überheblichkeit, Machtgehabe und Rechtgehabe. Ich bitte Sie, Russland die Hand zu geben und einen Friedensplan für die Ukraine gemeinsam mit der ganzen Weltgemeinschaft auszuloten. Ich bitte Sie alle Sanktionen mit denen Sie bereits viele Länder der Welt belegt haben, aufzuheben. Jeder Mensch hat das Recht in einem bescheidenen Wohlstand zu leben. Hören Sie bitte auf mit der Zerstörung immer wieder neuer Regionen in der Welt. Bitte sorgen Sie dafür, dass sofort alle Waffen schweigen und suchen dann nach neuen Wegen für die Menschen dieser Welt.

Und ich weiß, es wäre viel verlangt: Bauen Sie den kleinen Flughafen Sliač im Herzen der Slowakei zurück. Verwandeln Sie ihn in einen schönen Landschaftspark. Bitte erlauben Sie meiner Mutter ihre letzten Jahre in Ruhe und Frieden zu leben und bitte, trocknen Sie meine Tränen, die mir bei diesen letzten Sätzen fließen.

Mit freundlichen Grüßen
Martin Králik

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