Der irrende Spießer

Ich bin ein Scheiß-Spießbürger. Ich dachte, ich wäre besser, wäre anders. Ich habe vielleicht mehr Träume als die meisten Menschen, aber sonst bin ich genauso kleinlich, genauso verzagt und genauso ängstlich. Ich mache mir nur vor, ich wäre so frei, so gelassen und so über-der-Sache-stehend. Einst sagte eine Freundin von mir, ich würde falsche Signale senden, Signale des falschen Glücks, Signale von Optimismus, alle gespielt, gelogen und aufgesetzt. Signale zur Selbstbefriedigung. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht auch nicht, weil auf ihrer Stufe der Entwicklung zu verharren, will ich nicht. Ja, die Signale habe ich mir schon vor 25 Jahren antrainiert. In meiner Lehrerausbildung lernte ich eins: Wenn ich den Klassenraum betrete, lasse ich alle meine Sorgen draußen. Ich vermittle Zuversicht und Gelassenheit. Ja, ich bin ein Scheiß-Schauspieler. Und dann glaube ich das auch noch alles. Dieses Glück, das aus mir strahlt, diese Jesus-Aura, die mich ganz umhüllt. Und dann trete ich wieder aus dem Klassenzimmer und bin allein. Ich bin dann einsam und pflanze spießige Geranien und spießige Petunien auf meinem Balkon und seit ein paar Jahren schmücken meinen Balkon sogar Stiefmütterchen und Alpenveilchen. Die Erikas verschweige ich lieber. Und dann fliege ich in den Urlaub, weil die Masche mit meinem Glück natürlich nicht funktioniert. Dann baue ich sie sogar noch mehr aus, und stelle mich in Facebook als der glückliche Überflieger dar. Ein Scheiß-Spießer bin ich. Irgendwann fliege ich zurück und bin tot-unglücklich, deprimiert, und rede mir ein, dass ich mich auf den kommenden Frühling freue. Ich freue mich ja, obwohl ich in den gleichen Trott der Massen zurückfliege, in das gleiche Hamsterrad eines Durchschnittsmenschen. Und dann erzähle ich von meinen tollen Plänen, bezaubernden Visionen. Und ich glaube an sie, wäre da nicht meine Scheiß-Angst des kleinen Menschen, der nichts bewegt, sich bloß durch gelogene Signale präsentiert.

Als ich noch ein Kind war, war ich immer schon so seltsam anders. Man hat mich beneidet. Ich gehörte aber nirgends dazu, ich war allein, verloren, ängstlich. Viel zu früh bekam ich die erste Psychose, vor 12 Uhr darf man mich nicht anfassen, meine Hemden dürfen sich nicht an meinem Körper bewegen, viele Stoffe vertrage ich selbst nach 17 Uhr nicht. Und dies ist nur ein kleines Beispiel eines Menschen mit Jesus-Aura.

Jetzt bin ich auf einer Insel. Ich habe viel gelernt. Ich weiß nicht, wo die ganze Lebensweisheit steckt. Werde ich nun durch mehr Weisheit mehr lebensfrohe Signale senden, die jeder Realitätsgrundlage entbehren?; oder werde ich grauer, behutsamer und stiller auftreten und die Menschen ebenso in die Irre führen? Jakob, der Lügner, behauptete, er hätte ein Radio und er hätte gehört, dass der Krieg bald vorbei sei. Er gab den Menschen Hoffnung, die viele Leben rettete. Also, was ist mit meinen Signalen? Soll ich oder soll ich nicht?

6 Kommentare

  1. Ich saß ein Semester lang mit anderen Studenten bei einer Lehrerin in der ersten Stunde am Montagmorgen. Jeden Montagmorgen kam sie mit einer Energie in dieses Klassenzimmer und ich blickte uns sechs Studenten an und wusste, dass wir uns das abschauen müssen.

    Ich finde deine Ehrlichkeit bemerkenswert, leider kann man diese Art nicht mit ins Klassenzimmer mitbringen. Schön, dass du hier einen Raum gefunden hast, in dem du ehrlich leben kannst. Ich frage mich nur, ob du nicht eine Spur zu hart mit dir ins Gericht gehst?

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