Die letzte Friedenstaube

Es scheint mir lange her zu sein, als bei uns in Deutschland Millionen von weißen Friedenstauben lebten. Die Menschen und die Friedenstauben verbreiteten die Hoffnung auf Frieden für alle Zeiten. Die Tauben waren strahlend weiß und flogen in der blauen Luft in riesigen Schwärmen. Die Menschen bemühten sich aus ganzer Kraft diese so wichtigen Vögel zu unterstützen, indem sie in ihren Gärten Olivenbäume pflanzten, damit jede Friedenstaube die Möglichkeit hat, sich jede Zeit einen zarten frischen Olivenzweig in ihren Schnabel zu nehmen und so den Gedanken des Friedens in alle Himmelsrichtungen zu tragen. Wir Menschen dachten, dass wir für immer im Frieden leben werden.
Dann kam allerdings die Zeitenwende. Die großen Teile des einst abgeholzten Waldes nannte man Kulturlandschaft. Die übrigen Reste nannte man immer noch Wald, obwohl es sich hier um eine schäbige Fichtenmonokultur handelte und was für eine Überraschung, als diese jämmerliche Monokultur zu sterben begann. Der deutsche Wald starb nach und nach und für die Friedenstauben blieben nur ein paar ausgedörrte Bäume hier bei uns im Schwarzwald, die man immer noch nachhaltige Forstwirtschaft nannte. Viele Tauben verließen unser Land, sie flogen davon für immer. Die restlichen, die sich weigerten wegzufliegen, lebten ein trauriges Leben in der Hitze, im Staub – sterbend langsam eine nach der anderen. Verdurstet. Verhungert.
Und dann kam die Pandemie. Es reichte den Politikern nicht, dass man die Menschenkontakte verbot, dass man die Menschen aussperrte, malträtierte und verbal angriff. Man verbot auch den weinigen Tauben, gemeinsam auf den letzten Ästen zu sitzen, man verbot ihnen im Schwarm zu fliegen. Das fliegen war ab sofort nur einzeln möglich. Und man verbot ihnen auch, die menschlichen Behausungen aufzusuchen und sich bei den Menschen einen Olivenzweig abzuzwacken.
Und dann kam der Krieg. Die Politiker verboten nun den Tauben zu fliegen und die Idee des Friedens und der Diplomatie zu verbreiten. Man beraubte diesen kleinen so wichtigen Lebewesen ihrer Aufgabe, man nahm ihnen den Sinn ihres Daseins.
Die verbliebenen Friedenstauben gaben auf. Sie legten sich auf die heiße staubige Erde und atmeten ihr Leben aus. Nur eine einzige versuchte noch zu trotzen und verlor noch nicht ihre letzte Hoffnung. Sie ruhte sich aus und dann flog sie hoch und in der Luft erblickte sie meinen Balkon, auf dem ein Olivenbaum wächst. Sie flog meinen Balkon an und setzte sich auf sein Gelände. Ich kam aus meiner Wohnung und wunderte mich etwas über diese so zahme Friedenstaube. Sie begrüßte mich höflich und fragte mich, ob sie sich von meinem Olivenbaum einen Olivenzweig abzwacken könnte. Ich stotterte etwas unsicher: „Ja klar kannst du einen Zweig haben, aber du weißt ja, euch Friedenstauben hat man es verboten, die Friedensidee zu verbreiten.“ Darauf entgegnete die Taube: „Ja ich weiß es, aber ich bin die letzte meiner Art hier und habe nichts zu verlieren. Mein Leben hat keinen Sinn, wenn ich nicht das lebe, was in meiner Natur ist. Ich werde nach Berlin fliegen und dort im Bundestag ein Zeichen des Friedens setzen.“
Ich war etwas traurig, aber ich dachte mir, na gut, flieg, versuch es, wenn du noch etwas Hoffnung in dir trägst. Ich sagte ihr noch zum Abschied, dass sie bei ihrem Flug aufpassen solle, weil schon das ganze Land nach Schießpulver rieche.
Die Friedenstaube verabschiedete sich von mir und flog Richtung Berlin.
Nach einem langen und beschwerlichen Weg landete sie auf der Fensterbank des Bundestages. Sie sah eine Politikerin, die voller Begeisterung von Waffen sprach und immer mehr Waffen forderte. Sie sah in den Augen dieser Frau loderndes Feuer des Krieges.
Die Friedenstaube legte ihren Olivenzweig ab und pickte so laut sie nur konnte mit ihrem Schnabel an das Fenster, damit sie alle Politiker und Politikerinnen des Bundestags sahen. In dem Moment, als sich alle umdrehten und die letzte Friedenstaube erblickten, sprang die von Waffen redende Politikerin auf, sie rannte zum Fenster und mit viel Wut öffnete sie dieses. Mit aller Bösartigkeit, die in dieser Frau steckte, griff sie nach der Taube und brach ihr mit der anderen Hand das Genick. Dann warf sie den toten Körper des Vogels nach draußen.
Der Tod der letzten Friedenstaube war der Anfang des Krieges. Eines Krieges, der das Leben auf der Erde auslöschen sollte.

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