Verlassene Weinberge

Vater, es schneit bei uns wieder und der Frost ist dabei, die zarten Knospen meiner Weinreben zu zerstören. Ich weine bei dem Anblick meines Weinberges. In den kleinen grünen Knospen ist meine Erinnerung an dich verborgen. Du bist auch nicht mehr da. Ich kann meine Reben nicht vor Frost retten und deine, die du mir hinterlassen hast, sind so weit weg von mir. Ich kann sie auch nicht beschützen. In der Ferne steht stolz dein Lebenswerk – der sonnige Hügel, deine geliebten Weinreben und das kleine Blockhaus. Du warst so stolz auf das alles. Sogar einen Brunnen hast du bauen lassen. Nein, du hast ihn nicht bauen lassen. Ich sehe dich vor mir, wie du anpackst wo du kannst, wie du nachfragst, wenn du etwas nicht verstehst und wie du Geräte hebst, oder zumindest anfasst, weil du willst, dass dein Brunnen von dir gebaut wird.

Vater, dein Weinberg ist jetzt verlassen. Genauso vereinsamt und verlassen wie Tschechows Kirschgarten. Du bist nicht mehr da und ich weit weg. Meine Weinreben erfrieren und deine knospen in der Einsamkeit. Aus meinem Brunnen kommt kein Wasser – verfroren, nutzlos und einfach ohne den Willen zu sprudeln. Dein Brunnen – geschlossen, verlassen und nach deinem Tod sinnlos. Sinnlos für uns beide.

Vater, es schneit hier, aber es brennt wieder Feuer in der Welt. Der Himmel ist rot und überall zerschmelzt man wieder Eisen. Man baut neue Waffen und es regnen Feuer und geschmolzenes heißes Eisen auf uns nieder. Sie verbrennen wieder Bücher – diesmal die russischen. Sie unterscheiden nicht mehr zwischen Politik und Kultur. Vater, erinnerst du dich, als du mich als achtjährigen Jungen in die Stadt mitnahmst und mich dann fragtest, was ich mir zum Geburtstag wünschen würde? Ich sagte dir, dass ich mir ein russisches Wörterbuch wünsche. Du warst etwas überrascht, aber wir gingen direkt in eine Buchhandlung und du kauftest mir das Wörterbuch. Und ich – das kleine Kind – strahlte vor Freude über seine rote Farbe. Vater, man hat mir das Wörterbuch weggenommen. Sei froh, dass du es nicht mehr erleben musstest. Jeden Tag entscheidet man bei uns was oder wer der Feind sei und dann müssen wir alle ebenfalls sagen, dass das stimmt. Von manchen wird gefordert, sich öffentlich zu äußern. Die Meinungsfreiheit ist verschwunden – schleichend. Sie ist weg, einfach abhanden gekommen.

Vater, dein Weinberg ruht im Frieden. Die Sonne kümmert sich um die zarten Knospen deiner Weinreben. Das kleine Blockhaus überwacht die Weinrebenreihen – selbstsicher seiner erhöhten Lage. Und manchmal, zumindest im Traum, stehe ich auf dem Balkon des Häuschens und schaue ebenfalls nach. Das Wasser in deinem Brunnen wartet ungeduldig sprudelnd, dass man es anzapft, um die Reben zu wässern – um das Feuer in der Welt zu löschen – um die brennenden Bücher zu retten.

Vater, dein Birnbaum und dein Walnussbaum gedeihen. Sie knospen, sie sprießen und die Sonne wärmt sie beschützend. Das Feuer der Welt ist weit von deinem Lebenswerk. Der Frost und der Schnee meiner neuen Heimat sind auch weit. Du und dein Lebenswerk ruhen im Frieden.

Vater, mein Weinberg ist begraben unter dem Schnee. Dein Weinberg einsam ohne dich. Wir lassen jetzt los. Das Land wurde uns nur geliehen. Du bist weggeschwebt und ich werde dir auch folgen. Loslassen. Schweben. Das Stückchen Land für eine kurze Zeit pflegen und lieben. Und die Erinnerung behalten.

Unzählige Kirschgärten und unzählige Weinberge blühten und verkamen, um wieder irgendwann zu erblühen.

Vater, ich vermisse dich bei Frost, bei Schnee und diesem roten Himmel, der auf uns alle fällt.

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