Bevor ich abgefahren bin, hast du mir gesagt, dass ich eine schöne Geschichte schreiben soll. Als ich schon hier war, hast du mich daran erinnert und gesagt, dass ich sie dir von hier mitbringen soll.
Ich fliehe gern in die Einsamkeit. Ab und an leiste ich mir diese kleinen Flüchten. Es zieht mich in die Ferne. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Ort, an dem ich für immer bleiben könnte, ohne je weiter ziehen zu müssen. Als ich meine Reise geplant habe, war ich so aufgeregt, bereit zum Aufbruch. Alles stimmte. Mein Hotel, ein altes Haus aus dem 17. Jahrhundert, mitten in der Altstadt einer alten niederländischen Hansestadt an der Ijssel. Von der Region Gelderland habe ich kein strahlendes Sommerwetter erwartet, da ich schon mal im August vierzehn Tage an der niederländischen Küste in heißer Badewann anstatt am Strand verbrachte. Ich war viel zu naiv zu glauben, dass ich den hiesigen Herbst mögen könnte. Du kennst meine tiefste Abneigung, was den Herbst und den Winter betrifft. Ich dachte, dass diese Flucht, die Reset-Taste in meinem Kopf betätigt und ich als aufgeklärter über alles stehender Mann zurückkehre. Ich habe mir für diese Reise drei Bücher mit Texten und Kommentaren von und über Michel de Montaigne gekauft und mich auf ihre Lektüre gefreut. Montaigne hat mich enttäuscht – viel zu unsystematisch, oberflächlich und uninteressant. Dass ich nicht fliehen kann, wusste ich auch selbst. Ich wusste, dass man einiges auf die Flucht mitnimmt. Mir war klar, dass man die Wunden und die Narben mitschleppt und die Veränderung des Ortes diese nur lindern, aber nicht heilen. Die Antwort auf meinen Brief kam auch nicht. Du weißt doch, wie ich ihn mit voller Demut verfasst habe, ohne dabei die Situation zu verschönern. Sie hat mir aber nicht geschrieben. Sie schweigt. Das macht den Herbst unerträglich. Ich habe noch von Montaigne gelernt, dass mein Tod eines Tages nicht so schlimm sein wird, weil ich nicht von ganz oben fallen werde. Wenn jemand voll von Schmerzen und voll von Sehnsüchten nach unbekannten Orten durch das Leben schreitet, fällt nicht ganz von oben. Der Abschied wird leichter sein. Aber du weißt auch, wie ich dieses Leben liebe, wie ich darauf brenne, meine Sehnsüchte zu stillen. Du kennst meine Gebete und kennst meine unruhige Seele.
Zuerst wollte ich eine kleine Komödie schreiben. Die Geschichte der Sonne in den Niederlanden. Ich dachte, dass ich zuerst skizziere, wie die alten Leute hier nach und nach starben und es gab dann niemanden mehr, der sich noch daran erinnern würde, wie die Sonne einst aussah. Irgendwann wusste man schlicht nicht mal, dass es sie mal gab. Dann würde sich die Sonne plötzlich in meiner Geschichte durch die Wolken durchkämpfen und die Niederländer blenden und sie würden denken, dass es das Ende der Welt ist. Ich habe es nicht geschafft. Nicht mal diese Idee ähnelt einer Komödie! Genauso habe ich die schöne Geschichte, die du dir gewünscht hast, nicht schreiben können. Heute war ein durchaus sonniger Tag. Ich war wandern und genoss die zarten Sonnenstrahlen. Aber ich fühlte mich so einsam. Alle liefen zu zweit. Alle haben gelacht, als die Sonne kam. Die Terrassen füllten sich schlagartig und ich saß da allein.
Ich fliehe immer in die Einsamkeit, weil sie mir gut tut und gleichzeitig bereue ich diese Flüchten. Ich wünsche mir, ich wäre zu Hause und nicht allein. Das Zimmer aus dem 17. Jahrhundert überzeugt mich nicht mehr: keine Blumen, keine Bücher, keine Liebe. “Die Gleichheitsmaschine Gesellschaft zerfällt unter unseren Augen, und mit ihr eine Ordnung, die zweihundert Jahre lang nicht nur auf Blut und Tradition, auf Gewalt und Religion beruhte, sondern auf gesellschaftlich geteilter Arbeit und dem Versprechen auf solidarischer Sicherheit für alle.” (Mathias Greffrath: Montaigne heute. Leben in Zwischenzeiten).
Du denkst jetzt, dass ich es nicht lassen kann. Ich bin zerfallen und wie unsere Gesellschaft – ruhelos in der Einsamkeit und allein in der Hoffnung. Montaigne, dieser skeptischer Denker, gab mir doch etwas: Die Traurigkeit in mir holte er heraus. Die Gewissheit, dass es schwierig, sogar dumm ist, allein fliehen zu wollen. “Welche Verwandlungen sehe ich das Alter nicht alle Tage bei vielen meiner Bekannten anrichten! Es ist eine mächtige Krankheit, die ganz natürlich und unbemerkt daherkommt. Große Weisheit und große Umsicht gehören dazu, die Unzulänglichkeiten, mit denen sie uns schlägt, zu vermeiden oder wenigstens ihren Fortschritt zu hemmen. Ich fühle, dass sie mir, so sehr ich mich gegen sie verschanze, Schritt für Schritt auf den Leib rückt. Ich halte stand, so gut ich kann. Aber ich weiß nicht, wohin sie mich am Ende führen wird. Wie immer es ausgeht, es genügt mir, dass man wisse, aus welcher Höhe ich gefallen sein werde.” (Montaigne, ebd.)
Wenn ich nach Hause komme, schreibe ich eine schöne Geschichte für dich. Jetzt muss ich erst meine Flucht vollenden.