Ein junger Somalier

„Spring doch!“ – habt ihr geschrien, als der 15-jährige somalische Junge auf dem Fenstersims stand. „Spring doch!“ – hallte aus euren Mündern. Ihr habt schon längst vergessen, wie schrecklich einst der aufgewiegelte Mob durch die Straßen marschierte und die Nachbarn ihrer Großeltern oder ihre Großeltern selbst aus ihren Häusern zerrte. Der Junge hatte eine Mutter; er war noch ein Kind – verzweifelt floh er vor Armut, dem Bürgerkrieg – vor einem wütenden Mob seiner Heimat, vor den Chemikalien und dem Elektroschrott unserer Industrien. Er floh vor unseren Bomben, vor unserer zerstörerischen Technik. Er verließ seine vom Baumwolle-Anbau ausgelaugte Erde. Und es war nicht genug. Dann traf er euch. Und ihr habt geschrien; ihr habt ihn in den Tod geschrien!
Ihr habt ihn und die anderen Flüchtlinge für eure Misere schuldig gesprochen. Ich frage euch: Hat er eure Werktarifverträge aufgelöst? Hat er euch mit Leiharbeit zum Kanonenfutter der Konzerne verdammt? Hat er euch wegrationalisiert, eingespart und versklavt? Hat er euch blühende Landschaften versprochen und blühende Gewinne für Konzerne und die Reichen gegeben? Beschäftigte der somalische Junge Schwarzarbeiter, um die Terrasse seiner vornehmen Vorstadtvilla neu anlegen zu lassen? Hat er eure Wohnungen und eure Stadtzentren den Bauinvestoren vor die Füße geworfen? Ich könnte noch viele Fragen stellen, aber ihr hört nicht zu. Ihr grölt nur und sucht den Schuldigen. Nicht die Flüchtlinge, sondern eure Regierung beraubte euch eurer sozialen Sicherheit.
Ihr hasst die Flüchtlinge aus dem Süden und grölt dort weiter auf ihren südlichen paradiesischen Stränden. Schreit dort jemand eure Kinder an und wünscht ihnen, dass sie in den Meereswellen ertrinken sollen? Ihr torkelt betrunken durch Prag, obwohl ihr die Tschechen hasst. Ihr habt eure ältere und auch die neuere Geschichte vergessen. Ihr verratet mit euren Schreien eure eigenen Eltern und Großeltern. Mit eurem Hass plündert ihr bereits jetzt die Zukunft eurer Kinder.
Es war nicht der somalische Junge, der euch verraten hat, der euch allein gelassen hat. Es sind nicht die Flüchtlinge, die eure soziale Sicherheit in Frage stellen. Denkt vielleicht über die Raubzüge unseres goldenen Westens nach. Wisst ihr, unser demokratischer Westen plünderte schon die meisten Ressourcen aus, und jetzt geht er an seine Substanz – an die Menschen und ihre soziale Sicherheit. Nicht die Flüchtlinge sind die Ursache eurer Misere! Seid menschlich; seid klug; hört auf zu hassen. Seid edel und weise. Der Hass macht euch hässlich; eure Schreie machen unglücklich eure Kinder. Eure Gedanken töten lebendige Menschen.
Eure Zukunft wird nicht besser, wenn alle Flüchtlinge nach Hause gehen, falls sie ein Zuhause haben. Sie wird nicht besser, wenn man den Homosexuellen verbietet frei zu leben. Eure Familie wird dadurch nicht stärker. War etwa das Leben eurer Großeltern schöner und besser, als man Millionen von Menschen deportierte? War das Leben schöner, als die Bomben fielen?
Euer Leben wir nicht besser, wenn man die Schwachen aus ihren Häusern zerrt.
Beginnt zu leben und zu lieben. Seid Menschen!

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