Ein junger, schon länger kranker Mann starb ganz plötzlich. Ich mochte ihn sehr dank seines traurigen Blickes und seiner inneren in sich zurückgezogen Haltung. Seine Grüße im Treppenhaus wirkten sehr freundlich auf mich.
Zu seiner Beerdigung kamen keine Familienangehörige, keine Freunde, geschweige denn Bekannte. Vielleicht kam niemand, weil in jener Zeit der Tod alltäglich und allgegenwärtig geworden war. Die Menschen erstickten auf den Straßen oder unterlagen haufenweise den schlimmsten Krankheiten aufgrund der vollzogenen und endgültigen Trennung von der Natur. Manche starben genauso auf die Folgen ihrer fortgeschrittenen Oikophobie. Trotzdem war die Friedhofskapelle, in der die Zeremonie abgehalten wurde, überfüllt. Als erstes kam sein Handy. (Der neuste Schrei von einem Produzenten waren nämlich bebeinte Geräte, die einem aufgrund der hochentwickelten Sprachsteuerung hinterher torkelten. Wollte man in der Öffentlichkeit keine lauten Sprachbefehle erteilen, war es auch möglich, das mobile Gerät an einer klassischen Hundeleine zu führen.)
Ich kam aus einem merkwürdigen Mitgefühl, das ich aus meiner Jugend noch ganz vage in mir trug, zu seiner Trauerfeier. Ich war mittlerweile auch gefühllos, abgehärtet, desinteressiert an allem, was um mich herum geschah. Als ich aber sah, wie man ihn aus unserem Haus heraustrug, erinnerte ich mich an die Worte von John Donne, mit denen Hemingway seinen Roman „Wem die Stunde schlägt“einleitete:
„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“
Diese Worte las ich irgendwann in frühen 80er und ab den 90er schienen sie mir nicht mehr salonfähig. Ich hatte Angst, diesen Gedanken zu zitieren oder irgendwo zu erwähnen. Ich hatte Angst, dass mich jemand als kitschig-sentimental bezeichnen würde. Nun habe ich meinen ganzen Mut gesammelt und das Zitat nach fast 40 Jahren wieder gesucht. Wir sind gerade dabei zu sterben, uns zu vernichten. Mein junger Nachbar ist jetzt tot und ich fühle mich elend.
Ich setzte mich in die letzte Bank, um die Trauerzeremonie zu verfolgen. Vor mir saßen weinende Herren in schwarzen und grauen Anzügen. Der Leiter des Instituts für demographische Entwicklung ganz vorne offensichtlich ganz berührt von den Geschehnissen letzter Tage und schlecht gelaunt, weil er schon am nächsten Tag einen aktuellen und sicherlich keinen heiteren Bericht über die demographische Lage unserer Gesellschaft liefern musste. Neben ihm saßen schluchzend die Vertreter der wichtigsten Industriebranchen, die wieder einen Konsumenten verloren hatten. Die GEZ-Zentrale, der ADAC, die gesetzlichen und privaten Krankenkassen, die großen Volksparteien, die Kirchen und andere Einrichtungen schickten ihre besten Leute, um in aller Öffentlichkeit den Verlust der Monatsbeiträge, die der Verstorbene nicht mehr zahlen müsste, zu beweinen. Es war ein Jammern, ein Schluchzen – durchbrochen mit lautem hysterischem Geschrei dieser sonst gefassten Männer.
Ich saß da still und lauschte der Totenglocke zu, die nicht nur meinem verstorbenen Nachbarn, sonder auch mir leise und doch intensiv schlug.
Sehr traurige Geschichte…. ich bin zweifeln, dass ich schlaffen kann… Solcher Gedanke finde ich nicht kitschig-sentimintal, der jeden Mensch kann haben, aber nur mutiger und starker Mensch kann dass sagen und erkennen, vielen Dank……dass du, unser lieblings Lehrer mit uns teilen und deine Welt öffnen…. nachdem Tod wir nicht verschwinden…. wie gehen von einem Zustand in einen anderen…..unser inergen eine Seele überfließenden Liebe ist ewig, ich sah ihre Flug in mein Traum, ein Magischer Ihre Reinkarnation und einzigartige Melodie in die Täler, außergewöhnliche Landschaften mich angezogen….ich weiß sie ewig!
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Hui. Toll vorausgedacht. Kennst du von Georg Danzer „Wie war Weihnachten?“
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Ich habe mir das Lied gerade angehört, da Deutsch nicht meine Muttersprache ist, habe ich den Dialekt nicht ganz verstanden und daher auch nicht den Zusammenhang zwischen dem Lied und meinem Text:)
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Danzer singt vom Weltende und du beschreibst es. In beiden Fällen sind noch Menschen übrig, die aber ihre Vorgeschichte ausgelöscht haben. Bei dir führt man Handys an der Leine und niemand weiß mehr, was Familie mal war. Bei Danzer fragt der kleine Junge den alten Mann im Bunker nach dem großen Knall: Wie war Weihnachten? Und der Alte versucht zu erklären, was Schnee einmal war und wie man sich einen Christbaum vorstellen muss.
Verlorene schöne Selbstverständlichkeiten. Weggegeben für nutzlosen Tand bzw. zweifelhaften Tand.
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Danke für die „Übersetzung“ von dem Lied. Sehr schön/traurig
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Sehr gut geschrieben und visionär:)
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Sehr guter Text.
Danke dafür. 🙂
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Danke dir:)
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