An jenem Tag begann sie zu träumen. Die Furcht, die sie bis dahin in sich trug, legte sie ab. Sie verriegelte ihr Haus und ging auf die Straße. Sie fasste den Entschluss, die Menschen in den Gassen und auf den Plätzen zu beobachten. Sie wusste, dass ihre so gewonnenen Erkenntnisse, ihr eigenes Leben verändern können. Sie ging immer weiter. Mal saß sie auf den Bänken, mal in den vielen Cafés. Mal stumm starrend auf die Gesichter, mal aktiv vertieft in die Geschichten der sich laut unterhaltenden Menschen. Mit jeder Minute wuchs in ihr jene Entscheidung, die sie bald treffen sollte. Sie lauschte weiter den Gesprächen. Sie schaute sich die Fassaden der Häuser ganz genau und immer wieder an. Sie ging langsam und achtsam. Sie versuchte, ihre Gedanken, die sie belasteten, nicht zu vertreiben. Sie empfand sie nun als ein Teil, der zu einem größeren Ganzen beitragen sollte. Irgendwann wusste sie, dass sie umkehren muss. Sie ging – immer noch langsam – nach Hause. Zu Hause angekommen, ging sie in die Küche, ohne ihren Mantel auszuziehen. Die vielen verschiedenen Tabletten, mit denen sie sich umbringen wollte, spülte sie in die Toilette. Sie ging erneut in die Küche, zog jetzt ihren Mantel aus und setzte sich an den Tisch. Sie hielt kurz inne. Sie stand auf und ging in ihren Garten, nachdem sie aus der Schublade ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber genommen hatte. Im Garten schrieb sie Folgendes auf: „Bis jetzt lebte ich nur für mich. Ich kümmerte mich nur um mich. Ich sah nicht, was um mich herum passierte und ich fühlte nicht das Leid, das die Menschen zu ertragen haben. Ich dachte stets nur an meine Karriere, an mein Wohl. Ab jetzt will ich mein Wissen und meine Erfahrungen teilen. Ich werde mich um die vielen Bedürftigen kümmern; um die einsamen alten Menschen; um die vielen Obdachlosen auf unseren Straßen. Ich werde die junge Frau im Café Ruiz freundlich begrüßen und ich werde mich für ein paar Minuten zu dem alten Mann auf dem Rathausplatz setzen, damit er sich nicht einsam fühlt. Ich weiß jetzt, dass ich mehr von mir geben muss.“ Sie pflückte jetzt ein paar von ihren Lieblingsblumen und brachte sie ihrer schon älteren Nachbarin. Als diese die Tür öffnete und die Blumen sah, begann sie sofort zu weinen. Es waren Glückstränen nach vielen Jahren Einsamkeit. Sie weinten beide, aber bald trockneten ihre Tränen und sie lachten, sie plauderten und sie tauschten sich die vielen schönen und die traurigen Erinnerungen aus. Sie waren glücklich. Sie waren erfüllt vom Leben.
(Ich bedanke mich für die Inspiration für diese Geschichte bei Anastasia aus Sankt Petersburg.)
Danke, Martin!
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Hat dies auf umdenken jetzt rebloggt.
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