Ich trinke gerade stilles Wasser. Ich habe viel Bedürfnis dieses Wasser zu trinken, um meine Gedanken zu klären, um sie zu reinigen und um mich von ihrer Schwere zu befreien. Ich verspreche mir davon, einen gewissen Abstand zu gewinnen, zur Ruhe zu gelangen und vielleicht sogar die dunklen Schatten in mir durchzuspülen.
Kasachstan 1990. Der Junge Vater packte hastig seine und ihre Sachen. Er musste in jenen Wirren der Zeit einfach weg. Die Ehe war gescheitert und es wartete auf ihn und seine sechsjährige Tochter eine lange Reise – zuerst in die Ukraine, später nach Russland. Das kleine Mädchen sah ihre Mutter zum letzten Mal. Sie litt nicht, sie ahnte nichts. Sie wusste nicht, das diese Reise eine sehr lange Suche nach ihrer inneren Harmonie sein wird. Die Umwälzungen der Zeit hielten sie so lange weg von ihrer Mutter, bis diese eine Mutter zu einer unbekannten Frau geworden ist. Heute, 26 Jahre später, fliegt sie nach Kasachstan, um diese Frau und diese Mutter zu treffen. Sie fliegt euphorisch. Sie fliegt verängstigt. Sie muss dahin.
Ich trinke stilles Wasser für sie. Für ihre Heimkehr reinige ich meine Gedanken. Ich spüle alles durch. Diese Reise soll wie das stille Wasser in mir rein und erfrischend sein. Diese Reise muss klärend werden.
Slowakei 1997. Ich stehe auf der Straße und verstaue alle meinen Sachen in ein kleines weißes Auto. Meine Mutter hilft mir dabei. Ich flüchte vor Mečiarismus und der Unsicherheit in meinem Land. Ich bin 23 und sehr verliebt. Wir stehen da, ohne Worte, ohne besondere Sentimentalität und denken – uns tröstend und ein wenig naiv, dass Deutschland nicht so weit ist. Ich fahre nicht weit und nicht für immer. Ich ahne nicht, dass ich mit dieser Reise meine Eltern verliere. Mir ist nicht klar, dass mich mein neues Leben von meiner Mutter entfernt – nicht geographisch, eher mental. Ich ahne nicht, dass ich jetzt erwachsen und reif sein muss. Ich ahne nicht, dass etwas für immer zerbricht.
Ich fliege heute nach Wien und dann weiter in die slowakische Provinz. Ich fliege euphorisch und doch verängstigt.
Ich trinke stilles Wasser. Ich trinke es für sie und für mich. Ich trinke es langsam, dankbar, demütig. Ich trinke es für unsere Mütter.