Stumm

Flughafen Köln-Bonn. Ich höre um mich herum die Sprache, in der ich mittlerweile zu Hause bin. Sie ist meine geistige Heimat. Sie ist die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücke, mit der ich mit einer unglaublichen Leichtigkeit spielen kann, mit der ich mein Geld verdiene, und mit der ich schlaflos unzählige Stunden im Bett verbringe. Ich kann sie manipulieren; ich kann sie als Waffe verwenden; sie ist immer präsent und immer bereit, mir ihre Dienste anzubieten.
Ich bin unter Druck. Ich fliege gleich ab. Ich bestelle schüchtern einen Kaffee. Ich fühle, dass diese deutsche Sprache – jetzt im Flughafen – von meiner Muttersprache bedrängt wird. Sie kann nicht mehr verdrängt werden. Sie wird nur leicht angegriffen. Meine Sprachmelodie verändert sich plötzlich; mein „ch“ kommt nun kratziger raus, als ob mir eine Fischgräte im Hals stecken würde; meine Zunge biegt sich nach hinten in den Rachen, wenn ich ein „l“ aussprechen muss und mein „r“ beginnt zu rollen, als ob es nicht das Flugzeug wäre, das gleich von der Rollbahn abhebt, sondern dieses „r“. Ich bin lieber stumm; ich spreche nicht, ich vermeide alle Dialoge. Ein stummes Einchecken, stumme Passkontrolle, stumme Sicherheitskontrolle und schließlich ein stummer Flug.

Flughafen Wien. Ich steige aus. Ich möchte die Flughafenbeamten nicht hören. Es kocht in mir. Ich fühle mich einsam und fremd. Die alten Ängste sind plötzlich da und die Erinnerungen an diese Sprache von Anfang 90er wieder wach: „Aussteigen!“, „Passkontrolle“, „Etwas zu verzollen?“, „Koffer öffnen!“, „Wohin?“. Damals hat man uns mit diesem verstümmelten Deutsch angesprochen. Ohne Subjekte! Wir waren keine Subjekte für sie. Wir waren nicht willkommen. Man demütigte uns, nachdem man die eigene Sprache gedemütigt hatte. Man zog und betastete uns; wortlos; oder nur mit ein paar Verben. Sie öffneten mit dem Gefühl der Überlegenen unsere Koffer. Die Sprache brauchten sie dazu nicht. Ich war im Zug. Ich fuhr aus Wien nach Bratislava. Ich hatte Durchfall; verständlich. Ich ging auf die Toilette – nicht ahnend, dass der Zug über Ungarn in die Slowakei fährt. Ich war auf der Toilette. Die Grenze. Unerwartet. Sie schrieen: „Tür öffnen!“ Ich öffnete sie nicht. Ich sagte leise: „Ein Moment, bittteeee!“ Sie öffneten die Tür. Demütigung. Herunterlassene Hose. Gestank. Ihr moralischer Gestank!

Busbahnhof Bratislava. Ich bin fast zu Hause. Stotternd beginne ich mich zu informieren, wie ich nach Hause komme. Die Frau am Schalter schaut mich unglaublich an. Sie denkt, dass ich sie mit meinem archaischen Slowakisch verarsche. Sie kann nicht glauben, dass ich nicht weiß, wo ich ein Ticket kaufe. Sie hört meine muttersprachliche Aussprache; sie wundert sich aber, dass meine Sätze verdreht sind. Suchend nach Wörtern, suchend nach Endungen und der richtigen Konjugation steige ich sprachlos in den Bus ein und betrachte stumm und müde die vorbeiziehende Landschaft. Meine Mitreisende sprechen Slowakisch. Ich höre ihre mir fremder Melodie fließende Sprache; ich wundere mich über das Fremde, das in dieser Sprache steckt.

Banská Bystrica. Die Wohnung meiner Mutter. 4. oder 5. Etage. Meine Mutter spricht mit fließender Leichtigkeit. Andere Melodie. Neue Wörter. Ganz fremde Worte. Ich höre aber nur Fragmente heraus. Ich sage nur wenig. Die vielen aufeinander gereihten Konsonanten überfordern mich. Sie hört zu und wartet geduldig auf ein Verb, dass ich in einem Nebensatz wie im Deutschen erst am Ende ausspreche. Mutter und Sohn. Eine andere Sprache. Eine andere Kultur. Andere Gedanken. Ich höre zu. Sprachlos. Stumm. In Fragmente zerlegt. Einsam und fremd.

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