Plötzlich warst du da. Zwei große Koffer hast du mit dir geschleppt, mehr als zweitausend Kilometer hast du hinter dir gelassen. Ich wusste in jenem Moment nicht, was ich von dir halten sollte. Ich habe gelacht, einfach nur über das Leben gelacht. Du hast alles aufgegeben. Du hast deinen Job in der Bibliothek gekündigt. Ach, wie oft träumte ich davon, in einer Bibliothek arbeiten zu können – allein auf endlosen Fluren; allein mit den Tausenden von Bänden und dem Geruch der vergangenen Zeit; allein mit den gedruckten Schicksalen; einsam mit den Schmerzen. Du bist einfach weggelaufen. Du hast deine wunderbare Stadt, die nach Geschichte atmet, verlassen. Du hast gesagt, du hättest alles dort erreicht und hättest nicht weiter wachsen können. Du hast dich entschieden, dass dein Vorankommen von mir abhängt. Du hast mir keine Wahl gegeben. Und dann warst du plötzlich da. Das Gedicht, das du so magst, wolltest du nicht akzeptieren. Du hast dich geweigert den Satz: “Ich liebe dich auch wenn aus unseren Fenstern eine andere Stadt zu sehen ist…” auszusprechen. Du mochtest diesen Satz nicht; du wolltest nicht auf eine andere Stadt schauen. Die meine aber, hast du dir idealisiert. Du hast sie über die deine erhoben. Du hast mich über dein Leben erhoben.
Du schätzt meinen Verstand und meine Talente mehr als dein Herz, das doch dein einziger Stolz ist, das allein die Quelle von allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit. Es ist jedoch auch die Quelle des Elends. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen. Was ich bin, kann jeder sein. (frei verändert nach J.W.Goethe: Die Leiden des jungen Werther)
Du hast mich nicht gefragt, ob ich dich sehen will. Du hast nicht mal angerufen, dass du kommst. Plötzlich warst du da; auf der Straße. Es war ein heißer sonniger Tag und du hast von der Leichtigkeit des Lebens geredet. Du würdest dich von den Waldfrüchten ernähren, du würdest reisen, du würdest überleben, sagtest du. Ich hatte Angst. Du kennst keine Angst; dieses Gefühl kennst du nicht.
Du lachst über dein eigenes Herz und tust ihm seinen Willen. (ebd. frei verändert)
Nichts hat dich schockiert. Nichts hat dich das Fürchten gelehrt. Nicht mal der Blick deiner Mutter, die auf der Straße lebt, konnte dich stoppen, alles aufzugeben und in meine Stadt zu kommen. Du bist glücklich, auch wenn du tagelang kein Essen hast, du bist glücklich am Bahnhof in einer warmen Ecke. Nach vielen Nächten am Bahnhof und in den Straßen siehst du immer noch gut aus. Ich bin derjenige, der müde und abgekämpft aussieht, als ob ich in deinen kalten Nächten leben würde. Dabei kann ich mir aussuchen, in welchem Zimmer ich in meiner Wohnung schlafe. Du bist so voll vom Leben und sehnsüchtig nach ihm. Stundenlang kannst du unter einem Baum liegen und den Himmel anstarren. Dein Himmel ist immer bunt, deine materielle Armut ist deine Tugend. Du bist für mich der reichste Mensch; und der reinste. Und ich? – viel zu konform, viel zu vorsichtig, bisweilen feige.
Dein klares Wetter konnte wenig auf mein trübes Gemüt wirken, ein dumpfer Druck lag auf meiner Seele, die traurigen Bilder hatten sich bei mir festgesetzt und mein Gemüt kannte keine Bewegung als von einem schmerzlichen Gedanken zum andern. Doch genug, da du auch mein Schicksal kennst, auch mich kennst, so weißt du nur zu wohl, was mich zu allen Unglücklichen hinzieht. (ebd. frei verändert)
Auch mich zieht es auf die Straße und in die Wälder. Auch ich möchte wie du so frei sein. Ich träume von meinem Ausstieg und verharre in meiner viel zu engen bürgerlichen Welt. Die Zeiten, als ich einfach aus meiner slowakischen Provinzialität ausbrach und einfach nach Köln fuhr, sind endgültig vorbei. Du ahnst nicht, dass ich wie du war. Ich fuhr über Nacht nach Köln. In Prag duschte ich am Bahnhof und kam noch frisch in Köln an. Es war eine Weltreise damals für mich. Ich brauchte kein Essen, ich brauchte nichts. Nach drei Tagen fuhr ich wieder zurück. Einen Tag und eine Nacht. Ich kam in meiner slowakischen Provinz an jenem 1. September 1993 um 11 Uhr an und brach sofort wieder auf. Mein Zug nach Moskau fuhr um 20 Uhr los. Ich war verliebt; ich war verrückt. Ich war frei, erfüllt vom Leben. Ein Jahr später handelte ich wie du – der gleiche Unsinn meiner jungen Jahre. Mein Herz wollte nach Freiburg. Mein Körper landete jedoch vorerst in der bayerischen Provinz in Memmingen. Ja ich war wie du. Jetzt bin ich feige. Jetzt bin ich verwirrt.
Es ist Nacht – du bist allein, verloren auf dem stürmischen Hügel. Mit mir willst du fliehen. Wegen mir hast du deinen Vater und deinen Bruder verlassen. Hier bist du. Warum zaudere ich zu kommen? (ebd. frei verändert)
Weißt du, warum ich zaudere? Ja, du weißt es, aber du willst es nicht akzeptieren. Ich bin bodenständig. Haha, lachen jetzt meine Freunde. Ich bin viel zu alt für dich. Alt für deine Träume. Alt und müde, um deine Farben zu sehen. Verstehst du das? Dein Koffer auf der Straße zerreißt mir das Herz. Deine Blicke und deine Umarmungen verwirren mich. Du bist jetzt in dem gleichen Wald, in dem ich zehn Jahre spazieren ging. Ich mochte damals nicht den Wald – er war zu düster für mich. Der Teutoburger Wald war nicht meine geistige Heimat. Wie seltsam, dass du jetzt dort bist; wie wunderbar, dass du auch durch diesen Wald gehen wirst, um dich neu zu erfinden. Ich bin weggezogen, weil ich ihn nicht mochte. Ich sehnte mich nach dem Süden. Ich weiß, dass deine Sehnsüchte die gleichen sind, aber zuerst musst du durch diesen Wald gehen, um irgendwann irgendwo ankommen zu können. Ich wünsche es dir.
Da überfiel mich ein Schauer. Ich stand mit offenen Armen vor dem Abgrund und atmete hinab. Ich verlor mich in meinen Qualen, in meinem Leiden, da hinabzustürmen! dahinzustürmen wie die Wellen.(ebd. frei verändert)
Verstehst du mich, dass ich um dich Angst habe? Du kannst nicht ewig auf der Straße bleiben, nur um in meiner Nähe zu sein. Du kannst nicht immer träumen. Ich hasse mich für meine Traumlosigkeit und bitte dich, deine Träume aufzugeben. Das ist es, was mein Leben so schwierig macht. Ich wäre gern wie du, und doch machen mir deine Leichtigkeit und deine Unbekümmertheit Angst. Deshalb mag ich dich, und deshalb zweifle ich an dir und mir.
“Gott im Himmel! hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht, daß sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen und wenn sie ihn wieder verlieren! – Elender! und auch wie beneide ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflücken – im Winter – und trauerst, da du keine findest, und begreifst nicht, warum du keine finden kannst. Und ich – und ich gehe ohne Hoffnung, ohne Zweck heraus, und kehre wieder heim wie ich gekommen bin.” (J.W.Goethe: Die Leiden des jungen Werther.)
Kennst du dieses Buch? In Skandinavien hat man es im 19. Jahrhundert verboten. Viele junge Menschen haben sich umgebracht, nachdem sie es gelesen hatten. Ich war wie Werther und bin seinem Schicksal entkommen. Du bist jetzt wie dieses Buch. Pass bitte auf dich auf. Wirf dich nicht auf seinen Weg. Geh weg von der Straße. Der Blick aus meinem Fenster bleibt anders. Ich bin unerreichbar. Ich bin weit. Ich bin traurig. Du bist nun wie eine Waldfee, die im Teutoburger Wald tanzt. Du wirst spirituell wachsen. Dein Geist wird den Wald erfüllen. Deine Freundschaft zu mir bekommt Boden. Sei frei. Vergiss mich nicht. Umarme mich nicht so fest. Wachse mit mir, auch wenn jeder von uns aus einem anderen Fenster schaut.
“Werther hatte, wie wir aus seinen Briefen wissen, nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er sich, diese Welt zu verlassen, sehnte.”(ebd.)
Ich bin nicht Werther und du bist keine Wertherin. Ich habe meine Werther-Phase hinter mir. Du genießt sie gerade. Ich lerne viel von dir, auch wenn ich vor deinen Euphorien Angst habe. Du nennst mich dein Lehrer, dein König, dein Gott. Ich bin es nicht. Ich kann es nicht werden. Meine Werther-Jahre sind dahin.