Als wir noch vor Jahren in der sozialen Moderne lebten, fragte mich ein ausländischer Student, warum wir in Deutschland so viele körperlich und geistig behinderte Menschen und so viele Obdachlose haben; in seinem Land gäbe es sowas nicht, sagte er. Als neuer deutscher Bürger antwortete ich ihm stolz, dass man in Deutschland versucht, behinderte Menschen durch Inklusion ins Arbeits- und Alltagsleben zu integrieren, und dass man die Obdachlosen nicht aus den Zentren der großen Städte auf den geografischen und sozialen Rand der Gesellschaft drängt, wie es in vielen anderen Ländern üblich ist. Ich erzählte ihm von meiner Heimat, der Tschechoslowakei, wo man körperlich und geistig behinderte Menschen in verschieden Anstalten einsperrte, die man meist in ländlichen Gebieten gebaut hatte. Genauso beseitigte man immer ganz schnell die wenigen Obdachlosen aus den Stadtzentren. Auch in dem Bruderland mit dem großen roten Stern gehörten diese Menschen nicht zum Glanz dieses Sternes und waren zum bloßen Existieren hinter den Mauern verschiedener Anstalten verurteilt.
Unsere soziale Moderne ist nun leider vorbei. Als ich heute zur Arbeit ging, sah ich auf dem Bahnhofsvorplatz zwei junge Polizistinnen und einen Polizisten, die versucht haben, zwei obdachlose Menschen, die unter dem gläsernen Bahnhofsvordach saßen, vom Boden aufzuheben. Sie saßen dort in sich zusammengekauert, abgemagert und frierend. Nur das Bahnhofsvordach hat sie vor Regen und der Alkohol oder Drogen vor der Kälte der Nacht geschützt. Die Polizistinnen und ihr Kollege brauchten etwa fünf Minuten, bis die zwei armen Menschen stehen konnten. Als sie endlich auf den Beinen standen, wurden sie von unseren Beamten abgeführt. Eine kleine Hoffnung hatte ich. Vielleicht würde man sie zur Bahnhofsmission bringen. Oder ins Krankenhaus, da diese zwei Menschen sehr geschwächt aussahen. Ich ging langsam hinterher. Die Polizistinnen und ihr Kollege haben diese armen Menschen 150 Meter weiter begleitet und dort auf den Gehsteig hingesetzt – ohne Dach – im Regen. Dann gingen sie wieder zurück.
Der Kapitalismus zeigt seine hässliche Fratze. Die Sozial- und Christdemokratie, der wir seit dem Ende des Krieges dankbar sind, dass sie uns ein Leben in Frieden, Wohlstand und in Freiheit ermöglichte, verdient nicht mehr ihren Namen. In diesem Land hat doch jeder das Recht auf eine Wohnung und auf Sicherheit. Wie konnte es dazu kommen, dass die Schutzlosen nicht mal vor dem Regen fliehen können. Sie sind unerwünscht; sie passen nicht zu den glänzenden Beschäftigungszahlen unserer Regierung. Wundern wir uns noch über die Spaltung der Gesellschaft? 1944 schrieb Polanyi zum Thema Neoliberalismus: “Eine derartig dem Markt unterworfene Gesellschaft kann nicht bestehen, ohne ihre eigene Substanz, das heißt Mensch und Natur, also im Grunde sich selbst, aufzulösen.” (In: O. Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne.)
Unsere Sozial- und Christdemokratie brachte einst den Sozialstaat zum Gedeihen und entferne viele Klassenschranken. Sie unterstützte fast vorbildlich die soziale Mobilität und die Bildungschancen der Menschen in unserer Gesellschaft. Die gleiche, aber heute äußerst marode, dem Kapital und den Geldströmen unterworfene Sozial- und Christdemokratie verkündet uns heutzutage ihre Erfolge auf dem Arbeitsmarkt. Dabei verschleiert sie, “wie groß die soziale Ungleichheit hierzulande geworden, wie stark der Niedriglohnsektor gewachsen ist und die Prekarität zugenommen hat. Unter der Oberfläche einer scheinbar stabilen Gesellschaft erodieren seit Langem die Pfeiler der sozialen Integration, mehren sich Abstürze und Abstiege.” (Nachtwey 2016)
Unsere Sozial- und Christdemokratie bekam Kinder wie die AfD und Pediga. (vgl. Münkler: Die neuen Deutschen 2016)
Unsere Sozial- und Christdemokratie trägt die Obdachlosen 150 Meter weiter in den Regen als einzige Lösung, als einziger Ausweg der mangelnden staatlichen und gesellschaftlichen Solidarität und der fehlenden Barmherzigkeit vom Sozialstaat – als Zeichen ihres Charakters. Ihre Werte sind verschoben; alles, was dem schnelleren und effizienteren Kapital- und Warenströmen dient, hat einen besonderen Wert. Die Obdachlosen werden als wertlos abgeschoben, damit die Sozial- und Christdemokratie keinen Spiegel vor dem Gesicht ertragen muss.
Unfassbar. Ich habe das Gefühl es läuft immer mehr darauf hinaus ja nicht hinzusehen…
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Ja ich habe fast geweint, als ich es heute sah…
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[…] über Traurig in der postsozialen Postmoderne — umdenken jetzt […]
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