Die Begegnung mit dem Kronprinzen Julien erschütterte meine kleine Welt und ich kämpfte mit der Entscheidung, ob ich seine Geschichte erzählen sollte. Da er heute nicht mehr lebt, fand ich keinen Grund mehr, dies nicht zu tun. Er war ein durchaus glücklicher Mensch, und ich sage ganz bewusst, dass er ein Mensch war. Er wartete nicht auf den Tod seiner Eltern wie es viele Kronprinzen machen. Er wollte nie König seines Reiches werden; er wollte nur ein bescheidenes und glückliches Leben führen. Seine Mutter jedoch, hinderte ihn daran. Zuerst sah es aus, dass sie gelernt hatte, loszulassen. Sie schickte ihn an die besten Universitäten der Welt; sie gab ihm die Freiheit, sein Leben zu leben und verlangte von ihm nichts. Als sie jedoch älter wurde und ihr Königreich moralisch zerfiel, blieb sie sehr einsam. Sie begann sich an Jullien zu klammern; sie setzte ihn unter Druck und die Katastrophe kam ins Rollen.
Als ich Julien begegnete, weinte er bitterlich. Er bat mich um einen Rat und ich wusste keinen. Ich habe ihm nicht helfen können und habe zusehen müssen, wie er an seiner Mutter zerbricht.
Als Autor des Textes entschuldige ich mich bei den Lesern dieser Geschichte. Lest sie nicht weiter. Ich bitte Sie. Ich muss sie aufschreiben, um weiter leben zu können, und um Julien seinen letzten Willen zu erfüllen. Er bat mich, an seine Mutter einen Brief zu schreiben. Ich machen es nun, obwohl ich weiß, dass es zu spät ist. Ich mache es als Erinnerung an den wunderbaren Kronprinzen, der frei atmen wollte, der lachen wollte, der für sein Leben einen wunderbaren Weg gewählt hatte. Ich versuche, nur die Worte Julliens wiederzugeben, ohne dabei etwas dazu zu dichten, weil ich weiß:
“Man muss seine Phantasie im Zügel halten in allen Dingen, die unser Wohl und Weh, unser Hoffen und Fürchten betreffen. Malt man sich in der Phantasie mögliche Glücksfälle und ihre Folgen aus, so macht man sich die Wirklichkeit noch ungenießbarer, man baut sich Luftschlösser und muss sie nachher, durch die Enttäuschung, teuer bezahlen. Aber noch schlimmere Folgen kann das Ausmalen möglicher Unglücksfälle haben: es kann, wie Gracián sagt, die Phantasie zu unserm hässlichen Henkerr machen. (A. Schopenhauer: Die Kunst, glücklich zu sein).
Meine allerliebste Mutter,
ich schreibe Ihnen aus meiner ganzen Seele und hoffe, dass Sie wohlauf sind, auch wenn die Zeiten in Ihrem Königreich sehr schwierig sind. Haben Sie immer noch Schmerzen? Was sagt Ihr Arzt dazu? Gibt es noch Hoffnung, dass Sie genesen könnten?
Ich selbst weiß nicht weiter. Ich will Sie nicht mit meinem Brief beleidigen, aber nun ist die Zeit gekommen, dass ich Ihnen schreiben muss. Ich habe Angst, dass Sie sich aufregen werden, wenn Sie diese Zeilen lesen. Ich bin auch sehr traurig, dass Sie sich nicht die Mühe machen werden, diesen Brief zu lesen. Ich schreibe in einer fremden Sprache. Wir haben uns auseinandergelebt. Sie verstehen meine Worte schon lange nicht. Sie verstehen auch meine neue Sprache nicht. Wissen Sie, warum die deutsche Sprache zu meiner geistigen Heimat geworden ist? Nein, Sie wissen es nicht. Sie interessieren sich nicht dafür. Sie denken, dass Ihr einziger Sohn immer nur Ihre Sprache sprechen und schreiben muss. Als ich Ihnen sagte, dass ich Texte schreibe, haben Sie nur zwei meiner Texte gelesen. Durchaus sind Sie imstande, Deutsch zu lesen; mühsam und vielleicht mit einem Wörterbuch, aber Sie können das! Sie haben aber schon nach ein paar Zeilen aufgegeben, anstrengend wäre es für Sie, haben Sie mir gesagt. Sie haben viel zu schnell die Lust daran verloren, meine Gedanken entschlüsseln zu wollen. Sie hätten eine wunderbare Möglichkeit, mehr über mein Leben in der Ferne erfahren zu können, wenn Sie meine Texte lesen würden. Wissen Sie, wenn ich einen Sohn hätte, der auf Chinesisch schreiben würde, dann würde ich Berge versetzen, um zu erfahren, wie er denkt, wie er fühlt und wie er atmet. Sie haben viel zu schnell aufgegeben. Es hat Ihnen nicht gepasst, dass ich mich einer Sprache bediene, die Sie stets beschimpfen, die Sie bei jeder Gelegenheit angreifen und die Sie immer mit der düsteren europäischen Vergangenheit in Verbindung bringen. Warum haben Sie mich nicht gefragt, warum ich diese Sprache so liebe, warum ich sie nun zu meiner zweiten Muttersprache gewählt habe? Warum fragten Sie mich nicht nach meinen persönlichen Schwierigkeiten mit dieser Sprache? Nichts, Sie erzählten immer nur das Gleiche. Deutsch könne niemand lernen; Deutsch wolle keiner lernen, sagten Sie. Und dann haben Sie meinen ersten Text kritisiert. Sie sagten, man würde nicht “wir” schreiben, man müsse immer nur “ich” benutzen. Sie mögen nicht das “Wir”, ich weiß es, aber ich schrieb damals einen Text über unsere gemeinsame Welt und ich wollte nicht “ich” schreiben. Wissen Sie, ich hatte und habe immer noch die Hoffnung, dass es ein “Wir” gibt. Ich bin selbstbewusst und kann wohl das “Ich” verwenden. Sie haben mir nicht zugehört, als ich das “Wir” verteidigte, stattdessen haben Sie meine Texte weggelegt. Sie haben sie für immer weggelegt. Und das schmerzt. Deshalb habe ich jetzt keine Angst, Ihnen Vorwürfe zu machen. Sie werden meinen Brief nicht lesen. Sie haben es aufgegeben. Sie haben mich aufgegeben!
Fortsetzung:
https://umdenken-jetzt.com/2016/10/18/der-kronprinz-julienteil-ii/