Ich fahre im Zug Richtung Österreich, da ich glaube, dich dort finden zu können. Es ist mir unverständlich, dass du dich von mir entfernt hast. Du hast mir keine Nachricht hinterlassen, du hast dich nicht verabschiedet, kein Wort, wohin du gehst und warum du gehst. Ich suche dich nicht systematisch. Ich habe keine Kraft dazu. Wäre ich jünger, würde ich nun Detektiv spielen und sogar alle Nachbarjungs auffordern, mit mir nach dir zu suchen. Ich suche dich jedoch nicht. Ich fahre nur näher zu dir. Ich fahre zurück in meinem Kopf, zurück in unsere Kindheit und die Kindheit vieler anderer. Ich weiß nicht mal, wo du bist. Ich weiß nur, dass du nach Österreich aufgebrochen bist. Warum ich das weiß? Du hast schon immer viele mir unverständliche Sachen gemacht und Österreich ist das einzige Land, von dem du nie gesprochen hast.
Ich fahre einfach drauf los. In meiner Tasche ein Buch über die Wälder. Ich hoffe, darin die Ruhe zu finden, nach der ich mich so sehne. Ich muss den Wald in meinen Kopf reinbekommen und alles, was sich darin befindet, schleunigst verdrängen, im besten Fall sogar rausreißen.
Einmal ist meine Mutter verloren gegangen. Ich war da vier oder fünf. Meine Oma wusste nicht, wohin sie gegangen ist. Ich nahm das dicke Telefonbuch, das wir hatten, in die Hände. Das Telefonbuch war so groß und schwer, dass ich es kaum tragen konnte; so klein war ich damals. Ich blätterte wie wild darin und suchte nach der Telefonnummer meiner Mutter. Ich konnte noch nicht lesen, nicht mal telefonieren konnte ich. Als ich merkte, dass ich in diesem Telefonbuch meine Mutter nie finden werde, habe ich das Buch tränenüberströmt zerrissen. Meine ganze Kraft, meine ganze Wut schossen in meine Hände, um dieses verdammte Ding zu zerfetzten. Dann lag ich kraftlos auf dem Boden, neben dem roten Telefon und weinte und schrie nach meiner Mutter. Meine Mutter kam wieder. Sie kam müde, aber sie kam zurück. Deine Geschichte kenne ich auch. Ich weiß, warum du immer noch auf der Suche bist. Aber warum in Österreich? Als dein Vater vor den kriminellen Banden fliehen musste, hat er dich deiner Mutter aus den Armen gerissen. Überall lagen Massen von Schnee und die Kälte war unerträglich. Deine Mutter schrie nach euch und ihr musstet weiter laufen, ihr konntet keine Minute verschwenden. Sie blieb dort stehen, bis zu den Hüften im Schnee. An jenem Tag begann die Tragödie deines Lebens. Wie viele Telefonbücher hast du zerrissen? Wie viele Nächte deines Lebens träumtest du von einer Mutter? Weißt du, was ich an jenem kalten Abend gemacht habe? Ich habe dich noch nicht gekannt und ahnte nicht, dass du eines Tages in mein Leben kommst. Ich war in jener Nacht wieder allein und schaute einen Film über die Sklaven in Amerika. Überall wimmelte es von Krokodilen und immer, wenn ein Sklave flüchten wollte, wurde er von einem der Krokodile zerrissen und verschlungen. Vielleicht war es der Tag, an dem ich zum Kommunisten wurde. An jenem Tag begann mein Leid. Ich war ohne Mutter, allein und überall im Zimmer glaubte ich Krokodile zu sehen. Habe ich dir von dem jungen Mann erzählt, der ebenfalls ohne Mutter lebte? Das traurige an seiner Geschichte ist ebenfalls, dass er selbstverständlich eine Mutter hatte, aber sie wollte ihn nicht sehen. Er ging jeden Tag zu ihrem schicken Haus in der Vorstadt und beobachtete sie von weitem durch ihre Fenster. Er sah sie beim Frühstück, er sah sie auf ihrer Terrasse und in ihrem Wohnzimmer. Jedes Mal als er sie sah, war er glücklich und sehnte sich wieder danach, ein Kind zu sein und mit seiner Mutter zu spielen. Als er sich aber von ihrem Haus entfernte, weinte er jedes Mal. Eines Tages kam er wieder in die Nähe des Hauses seiner Mutter und erstarrte in einem furchtbaren Krampf und der Schmerz in seinem Herzen paralysierte ihn. Er sah fremde Leute, wie sie im Wohnzimmer die Bilder seiner Mutter abhängen. Sein Kopf war nicht fähig zu denken. Er dachte nur an den Tod, vor dem er immer schon Angst hatte. Ich erzähle dir diese Geschichte zu Ende, wenn du zurück aus Österreich kommst, wenn du sie überhaupt hören möchtest.
Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle? Ich bin an diesen dunklen Abenden so unvollständig. Ein Kommunist, der von wärmeren Tagen träumt, bin ich heute. Ich sehne mich nach einem Spaziergang im Wald, ohne Angst haben zu müssen. Ich will nicht auf Weihnachten zurasen, ich brauche Licht. Ich hasse Krokodile und Telefonbücher. Aber weißt du, was ich am meisten hasse? Schweigende Telefone und leere Mailboxen kann ich nicht ertragen. Ich kann nicht mehr die Menschen, die in ihren warmen Zimmern sitzen, ertragen. Sie sitzen dort gelangweilt und gehen nicht nach draußen. Der Wald ist leer, die Einkaufszentren voll.
Letzte Woche trat ich auf meinen Balkon, um mir meine und deine Novemberrosen anzuschauen. Dieses Jahr haben wir wieder Glück. Es gibt noch Rosen auf meinem Balkon. Es war dunkel und kalt. Ich schaute vom Balkon aus durch mein Wohnzimmerfenster und ich blieb traurig, weil ich mein Leben sah. Das Leben mit vielen Blumen, vielen Büchern und schönen Farben, aber sonst war das Wohnzimmer leer. Und das Schlimmste war, dass ich für einige Bruchsekunden ein Krokodil sah. Ich sah ihn ganz deutlich mit seinem aufgerissenen Maul, in dem er ein dickes Telefonbuch hatte und neben ihm lag ein altes rotes zerschlagenes Telefon. Und überall Stille, kein Anruf, kein Zeichen – in meinem hell beleuchteten warmen Zimmer der täuschenden Illusionen.