Kultur in den Fundamenten: Moderation (1. April 2017)
(Eine Rede, die ich gern halten würde, aber werde dies aus zwei Gründen nicht tun. Erstens habe ich nicht genügend Mut dazu, obwohl mir die Legitimation, diese Veranstaltung “Kultur in den Fundamenten” zu moderieren, nicht fehlt. Der zweite Grund ist jedoch schwerwiegender. Ich befürchte, dass das Publikum nicht aus seiner müden Lebensstarre geweckt werden will. Das Publikum möchte unterhalten werden, will nicht gestört werden. Bei vielen Menschen sind die eigenen Vorstellungen von einem guten Leben festgefahren. Mit dieser Rede würde ich riskieren, dass das Publikum im Konzert meinen Angriff auf die heutige Gesellschaft nicht verkraften würde, falsch interpretieren und persönlich nehmen würde. Wir leben Leider in Zeiten, in denen wir alles, was um uns geschieht, tatenlos akzeptieren, weil wir denken, dass wir eh nichts ändern können. Wir suchen den Schuldigen für unsere Misere woanders.)
Einen wunderschönen guten Abend Euch. Ich moderiere nur sehr ungern diese Veranstaltung, aber diesen zweiten Teil vorzustellen, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Zuerst möchte ich euch meinen langjährigen Freund XY vorstellen, der heute am Klavier einen jungen Sänger begleiten wird. Er möchte für seine musikalischen Verdienste nicht gelobt werden; man kann diese aber in unserem Programmheft nachlesen. Eine Sache aber, muss ich hier erzählen:
Er arbeitet als Gymnasiallehrer und hat nur eine ¾ – Stelle, obwohl er eine ganze Stelle haben könnte. Er entschied sich bewusst für mehr Freizeit und damit für mehr Lebensqualität. Er ist sehr interessiert an Kultur und seine Selbstverwirklichung liegt nicht ausschließlich in seiner Arbeit. Seine Entscheidung, weniger zu arbeiten, ist es, die uns auch heute Abend alle bereichert. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er den jungen Sänger, der gerade mal vor 4 Monaten nach Deutschland gekommen war, intensiv auf den heutigen Auftritt vorbereitete.
Ich habe gehört, dass es immer noch Leute gibt, die 39,5 Stunden pro Woche, oder sogar mehr, in der Arbeit verbringen, obwohl sie sich es leisten könnten, viel weniger zu arbeiten. Ich habe gehört, dass es tatsächlich noch Leute gibt, die denken, dass die Selbstverwirklichung in der Arbeit liegen würde, im materiellen Wohlstand. Sie sind gefesselt in dieser alten Vorstellung, sie belügen sich selbst und schwafeln von Selbstverwirklichung. Sie meinen, sie wären unersetzbar. Sie glauben, nützlich für unsere Gesellschaft zu sein. Dabei hat unsere Gesellschaft nur ein kurzes Nutzen von ihnen, da sie oft ihre Arbeit irgendwann nur oberflächlich und lustlos ausüben. Nicht ganz selten verbringen sie ihre Zeit in unseren modernen Kliniken, die auf seelische Krankheiten spezialisiert sind.
Ich habe gehört, es gäbe Priester, die in Vollzeit arbeiten und darüber hinaus immer erreichbar sind. Sie verwalten, organisieren, koordinieren immer größere Einheiten; sie sind vergraben in Bürokratie, kleben auf den Stühlen in zahlreichen Sitzungen, Besprechungen, Konferenzen und Arbeitskreisen und glauben dann, wenn sie mal drei bunte Bilder auf die Kirchenwand projizieren, das dies die erträumte Selbstverwirklichung und Seelsorge sei. (Und manchmal höre ich sie über ein Leben in Fülle reden.)
Ich höre jeden Tag von erfolgreichen Managern, die sich mit Psychopharmaka vollpumpen, von Lehrern, die viel zu früh verrentet werden, von Soziologen, die keine Kraft mehr haben, selber die Gesellschaft positiv zu beeinflussen. Die Fähigkeit zum klaren kollektiven Denken ist uns abhanden gekommen. (Vgl. Al Gore: Die Zukunft, S. 25) Ich habe ausgebrannte Freunde, die nicht das Wahre, was uns das Leben bietet, erkennen. Wir haben heutzutage mit einer völlig neuen Realität zu tun, mit der wir kaum mehr umgehen können. Die Ausgeglichenen von uns, sind nur deshalb noch nicht angeschlagen, weil sie sich vor der Realität versteckt haben; sie ignorieren sie, verdrängen sie, oder bekommen sie gar nicht mit, weil sie ständig in ihrem selbstgebauten Hamsterrad herumtrampeln.
“Über das Nicht wahr haben wollen und unser fatales blindes Vertrauen auf einen in die völlig falsche Richtung weisenden ökonomischen Kompass hinaus gibt es noch etwas, was tief in uns allen angelegt ist: Wir alle wollen glauben, dass mit und in der Welt oder doch zumindest mit und in dem Teil der Welt, in dem wir selbst leben, alles in Ordnung ist. Sozialpsychologen sprechen in diesem Zusammenhang von der Theorie der Systemrechtfertigung. Sie besagt, dass alle Menschen gut von sich selbst denken wollen, von den Gruppen, mit denen sie sich identifizieren, und von der sozialen Ordnung, innerhalb derer sie ihr Leben leben. Weil die erforderlichen Veränderungen so umfassend sind, lässt sich jeder Vorschlag, diese unerlässliche Reise anzutreten, ohne Schwierigkeiten als eine Herausforderung des Status quo darstellen. Wir neigen dann dazu, ihn dadurch bewahren zu wollen, indem wir automatisch jede potentielle Alternative zum Ist-Zustand zurückweisen.” (System Justification Theory, Encyclopedia of Peace Psychology in Al Gore: Die Zukunft, S. 421)
Nun habe ich genug gesagt. Ich möchte euch heute Abend auch einen jungen Sänger vorstellen. Xi-Yu hat noch das Leben in Fülle, dass wir uns alle wünschen. Er glaubt noch an das Leben und an die Möglichkeiten, die uns dieses Leben bietet. Ich freue mich sehr, dass er heute Abend da ist. Vielleicht ist der heutige Abend für uns eine Möglichkeit, unser Leben Revue passieren zu lassen, und einen Neubeginn zu starten. Ein Musiklehrer am Klavier, der sein Leben sinnvoll gestaltet, ein junger Sänger, der noch von einem schönen Leben singt und träumt und die ihre Musik, die sie uns heute präsentieren, werden uns vielleicht ermutigen, unser Leben und unsere Gedanken neu zu ordnen.
Ich wünsche euch einen wunderschönen Abend und ein Leben in Fülle.
Auch wenn ich mich angesprochen fühle, gefällt mir der Text ( wenigstens im Großen und Ganzen). Übertreibung macht ja manchmal anschaulich.
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Alle Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig:)… Danke:) übertrieben ist in dem Text allerdings kaum etwas:)
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