Die zweite Hälfte des Lebens

Niemand wollte ihm seine Worte glauben, auch wenn viele, weil sie ihn etliche Jahre kannten, wussten ganz genau, dass er durchaus für eine Überraschung gut ist. Er befand sich bereits in der Mitte seines Lebens, kaufte sich mehrere Paare Wanderschuhe und sprach ständig von Aufbruch. Alle waren von seinem Aufbruch nicht ganz überzeugt, weil sein neuer Rucksack viel zu klein war. Sie konnten jedoch nicht wissen, dass er nichts mehr brauchte, um glücklich leben zu können. Sie wussten nicht, dass seine dreitägige Wanderung nach Weimar eine Art Probe war; ein Versuch, mit diesem kleinen Rucksack klarzukommen.

Noch einen Monat muss ich durchhalten. Dann bin ich weg für immer. Das Neue Leben, von dem ich immer sprach, beginnt. Es muss beginnen. Haaaa… Das Leben ist so kurz und ich befinde mich in seiner zweiten Hälfte. Meine Wohnung ist entrümpelt; fast alles ist seit Monaten weg. Gestern klopfte ich die letzten nicht mehr brauchbaren Sachen in die Mülltonne. Von den vielen Blumen verabschiedete ich mich innerlich; ich schmiss sie nicht weg, aber ich lasse sie einfach vertrocknen, wenn ich weggehe. Ich besitze keine Gegenstände mehr, die mich binden würden, an denen ich hängen würde. Leicht fühle ich mich. Ich ärgere mich nur, dass ich so viele Jahre dafür gebraucht habe, loslassen zu lernen, den wahren Sinn des Lebens zu erkennen. Andererseits bin ich glücklich, dass es mir gelungen ist. Jetzt. Für die zweite Hälfte des Lebens.

 

Die letzten Tage vor dem Aufbruch verbrachte der kleine schwarze Fisch von Samad Behrangi unter dem großen Stein und floss mit seiner Mutter jeden Tag in die gleiche Richtung hin und wieder zurück. Eines Tages verschwand er und begann, endlich zu leben.
Ich dachte nie, dass ich eines Tages den Jakobsweg laufen werde. Und schon gar nicht ahnte ich, dass ich den nicht nur bis nach Santiago laufen werde oder bis nach Finisterre, sondern dass ich dann immer weiter gehe, auf dem Wasser, auch wenn meine Kollegin meinte, dass ich dafür nicht die richtigen Schuhe hätte. Wenn das stimmt, was sie sagte, nehme ich halt ein Schiff. Ich habe keine Angst. Ich versuche es einfach in der weiten Welt. Ein Zurück gibt es nicht, aber es gibt ein Vorwärts. Die Vergangenheit wird immer größer und die Zukunft immer kleiner und irgendwann gibt es nur noch viel Vergangenheit und keine Zukunft, las ich letzte Woche irgendwo. Und meine Zukunft wird immer kleiner, schon jetzt verkleinert sie sich mit einem Wahnsinnstempo, deshalb gehe ich jetzt, die zweite Hälfte meines Lebens anders zu leben. Die erste Hälfte war schön. Ich darf nicht bleiben und in der Hoffnung leben, dass ich das Gleiche noch einmal wiederholen kann. Adieu!

9 Kommentare

  1. Wow, der letzte Eintrag hatte den Abschied ja schon inbegriffen und dieser hier bestätigt es. Ich wünsche dir eine gute Reise und deinem Blog bleibe ich treu, falls du auch in deinem zweiten Leben von dir hören (bzw. lesen) lässt.
    Viel Glück auf deinem Weg.

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  2. Mein Lieber, es ist so wie Du schreibst, ich kann Dir nur das Beste wünschen. Es gibt nichts, was Du nicht schaffen würdest, davon bin ich überzeugt. Ich kenne Dich seit Jahren und habe diese verrückten 😉 Wege immer mehr oder weniger mitverfolgt und Dich immer bewundert. Vom ersten Tag unserer Begegnung an. Bleib so wie Du bist! ❤️💛💙 Ind hält mich auf dem Laufenden!!!! Alles Liebe!!!!

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