Als ich in Logroño das Bild der jungen Frau an einem Haustor sah, zögerte ich keine Minute und klopfte an dem Tor an, um mehr über diese Frau zu erfahren. Nach einer kurzen Weile öffnete mir eine schon sehr alte Frau und als ich ihr sagte, was ich will, lächelte sie sichtlich zufrieden; lud mich auf eine Tasse Kaffee ein und erzählte mir die Geschichte ihrer Großmutter Adiana und ihres Großvaters José Luis: Adiana und José Luis heirateten 1882 in Nájera und zogen in dieses Haus in Logroño ein, das dem Vater von José Luis gehörte. José Luis war Winzer und verbrachte jeden Tag in seinen Weinbergen um Logroño. Adiana war glücklich, in diesem Haus wohnen zu können, aber bald stellte sie fest, dass ihr Leben mit José Luis sehr monoton war. Sie verbrachte praktisch ihr ganzes Leben allein, auf ihren Mann wartend. Nur einmal pro Jahr reisten sie für ein paar Tage nach Pamplona, um bei dem Fest von San Fermín dabei zu sein. Sie hätte so gern das Meer gesehen, sie wäre gern ins Theater gegangen, sie wäre gern, wie ihre Freundin Anamaría, mit ihrem Mann, wenn die Sonne unterging, auf die Plaza de la Constitución gegangen, hätte sich gern in eines der vielen Cafés gesetzt und einfach die warmen Abende genossen. Ihren Mann konnte sie aber zu nichts bewegen; er dachte nur an die harte Arbeit in den Weinbergen. Er hatte immer schon Angst, arm zu sein, plötzlich alles zu verlieren. Und immer, wenn er nach Hause kam, war er so müde, sodass er sich nach dem Abendessen sofort ins Schlafzimmer zurückzog, wo er binnen einer halben Stunde tief einschlief. Adiana saß dann am Fenster und schaute den vielen müden, aber glücklichen Pilgern zu, die kein Haus besaßen, die sich um “Morgen” keine Sorgen machten, die frei waren. Sie saßen auf der Straße, lachten und erzählten unzählige Geschichten aus ihrer Pilgerschaft. Adiana wäre am liebsten auf die Straße gerannt, hätte sich am liebsten zu ihnen gesetzt und wäre gern mit ihnen am nächsten Tag weiter gezogen. Ihr fehlte es jedoch an Mut; sie war anders erzogen worden; ihre Lebensaufgabe bestand darin, sich um ihren Mann zu kümmern. Mit der Zeit wurde sie immer stiller und gab ihre Träumereien auf. Sie begann ihren Lebenskäfig – das schöne Haus – mit Blumen auszuschmücken; ihr Garten blühte prächtig; aus den Fenstern hingen bunte Petunien herunter und in jedem Zimmer standen mindestens drei Tonvasen mit prächtigen Blumensträußen. Heimlich kaufte sie tausende kleine Jakobsmuscheln und bemalte sie mit kleinen bunten Blümchen und wenn ihr Mann einschlief, warf sie diese aus dem Fenster auf die Straße. Sie freute sich immer sehr, wenn einer der Pilger eine Muschel aufhob und in seine Hosentasche steckte. Adiana würde nie verreisen, nie aus Logroño rauskommen, nie nach Santiago pilgern und nie das Meer sehen, aber eine ihrer Muscheln wird das Meer erreichen. Ein Pilger würde sie mit sich tragen und in Finisterre ins Meer werfen. Und tatsächlich, immer wenn dies geschah, spürte Adiana in ihrem Herzen ein sanftes Aufschlagen der Muschel auf dem Meeresboden.
Adiana starb 1964 verarmt in einem Hospiz für Obdachlose. Ihr Mann konnte in den Wirren der Geschichte den Wohlstand nicht halten. Und bis heute sind die Wände dieses Hospizes bemalt mit hunderten Jakobsmuscheln mit kleinen bunten Blümchen, die Adiana im letzten Jahr ihres Lebens an die tristen Wände malte.
Heute verließen wir um 6.40 Uhr Logroño und pilgerten 30 km nach Nájera. Auf dem Weg bewunderten wir viele sakrale Bauten, die Jahrhunderte überdauerten. Der Jakobsweg ist sehr reich an Geschichte und an Geschichten so vieler Menschen, die hier leben. Der Weg war heute sehr beschwerlich; die Sonne und der blaue Himmel erschwerten alles. Ich dachte an die vielen Pilger, die im Mittelalter diesen Weg gegangen sind. Sie jammerten nicht, sie liefen und schliefen auf dem Boden im Wald. Sie aßen, was sie gerade fanden und wuschen sich in den Bächen. Wir haben es viel einfacher. Wir suchen nach Zimmern mit eigenem Bad; die Infrastruktur ist wunderbar ausgebaut; man kann sich kaum verirren. Wir genießen auch die Anwesenheit anderer Pilger, insbesondere gefällt uns, einen jungen Koreaner und ein chinesisches Pärchen mit unseren Überholmanövern kurz vor dem Ziel der Tagesetappe aufzuziehen. Sie starten halt zu früh und zu schnell; wir – müde von der Nacht – kommen nur langsam voran; zünden jedoch in den Bergen auf den letzten 8 km unseren Turbo und innerlich beißend, äußerlich locker holen wir diese jungen Leute ein. Für morgen haben wir uns jedoch vorgenommen, sie eine Etappe gewinnen zu lassen. Wir wissen, der Jakobsweg ist kein Wettbewerb, aber man braucht manchmal auf den langen Wegen ein paar Motivationsschübe.
Sehr schöne Geschichte. Ich bin voriges Jahr den Weg von St. Jean Pied de Port bis nach Burgos gegangen. Ich erinnere mich an die Schutzhütte. Drinnen waren viele Steine bemalt und auch beschrieben…..auf einem stand: the greatest hazard in life is to risk nothing at all……. Das ist seitdem mein Lieblingsspruch. Einen schönen Weg weiterhin.
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