In Belorado

“In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen überlebenswichtig sind. Der Camino bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht Halt. Dabei liegt der einzige Halt im loslassen.” (H.Kerkeling)

 

Ich hatte nie Angst, mich zu stellen. Mit 17 verließ ich das Elternhaus, um in einer sehr alten Kleinstadt mein Abitur zu machen. Damals war jenes Eliten-Sprachgymnasium meine einzige Chance, die harten Aufnahmeprüfungen für die Universität zu bestehen. Jene Stadt, die ich heute faszinierend finde, wirkte damals auf mich nur depressiv. Eine Kleinstadt in den Bergen der Mittelslowakei (Banská Stiavnica), die von deutschen Auswanderer erbaut worden war, bot nichts einem jungen Mann; und daher lebte ich sehr zurückgezogen, mich der Lektüre widmend. Ich genoss meine Flucht aus meinem alten mittelmäßigen Gymnasium, in dem das Auswendiglernen die größte Leistung war. Diese Zeit formte mich entscheidend.

Die zweite Flucht aus der Mittelmäßigkeit war meine Auswanderung nach Deutschland. Ein Tag, nachdem ich mein Unidiplom in der Hand gehalten hatte, verließ ich meine Heimat. Ich wollte nicht versauern und abstumpfen als Lehrer an einer postkommunistischen Schule.

Nun befinde ich mich auf meiner dritten Flucht. Auf der Flucht vor der entspiritualisierten westlichen Welt, in der der Mensch nach seiner Leistung beurteilt wird und in der der Mensch solange gebraucht wird, bis man aus ihm Profit schlagen kann.

 

“Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er ist eine Herausforderung und eine Einladung. Er macht dich kaputt und leer. Restlos. Und er baut dich wieder auf. Gründlich. Er nimmt dir alle Kraft und gibt sie dir dreifach zurück.” (H.Kerkeling)

 

Der neunte Tag unseres Jakobsweges führte uns durch Weizen- und Sonnenblumenfelder nach Belorado. Wir liefen 22 km. Jeder Kilometer ist ein glücklicher Kilometer. Ich übte wieder die Methode, schlechte Gedanken abzuwerfen, weil ich mich mental eine halbe Stunde mit meiner Kranken- und Rentenversicherung beschäftigt habe. Vor meiner Pilgerschaft schrieb ich beiden, dass sie mich, mit Entschuldigung, erstmal am Arsch lecken sollen. (Sie machen es ungern.)

Wir laufen mittlerweile ganz leicht. Wir schlafen besser. Wir sind glücklich, diesen Weg zu laufen und diesen Lebensweg eingeschlagen zu haben.

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