Wovon ich leben werde

Es ist ein wunderbares Gefühl, in der Calle del Arco in Sahagún zu sitzen und sich die mittelalterlichen Bauten anzuschauen. Ich denke über mein privilegiertes Leben nach, da ich eigentlich derjenige bin, der die große Freude hatte, den Christus in Gestalt eines armen Menschen auf meinen Schultern zu tragen. (frei nach Santo Domingo de la Calzada)

Die friedliche Calle del Arco und ein Meer an Zeit gibt mir Kraft, mich als der Helfende zu fühlen, selbst wenn ich an manchem dunklen Abend nach Hilfe schrie. Selbst hier auf dem Jakobsweg bin ich privilegiert; die Strapazen des Tages in einem schönen Doppelzimmer mit einem eigenen Bad von sich abwerfend, kann ich dann schreiben und lesen, die Menschen, die vorbeigehen, beobachten. Auch mir tun die Beine weh und es zwickt im Nacken, aber es ist nicht der kleine Rucksack, der das Unbehagen verursacht; es sind die kleinen Sorgen des Alltags. Viele sagen, ich sei ein Träumer, und wenn ich zurückkomme, werde ich arbeiten müssen. Sie fragen mich, wovon ich leben möchte und dabei riskieren sie, dass ich ihnen eine in die Fresse haue. Habe ich bis jetzt etwa gehungert? Habe ich nicht schon als Gymnasiast und als Student gearbeitet? Mit einem Unidiplom in der Tasche schleppte ich dann Pakete bei der Deutschen Post – in einer riesigen Halle – gebaut nach alten Bauplänen für Sklavenfabriken. Ich ließ mich von primitiven Menschen anschreien, weil ich damals hier im Westen keine andere Wahl hatte. Ich verbrachte Tage in einer von Rohheit geprägten Atmosphäre – umgeben von anderen Sklaven der Deutschen Post. Später wischte ich fremdes Sperma in den Sexkabinen einer Sauna ab, um irgendwann dann doch unterrichten zu dürfen. Warum werde ich also immer gefragt, wovon ich leben will? Wer von den Fragenden putzte angetrocknetes Sperma von den verschwitzten Gummibetten ab, um diese stupide Frage zu stellen, wovon ich leben wolle? Der Jakobsweg ist nicht einfach; ja, ich mache mir Sorgen, aber diese Sorgen kreisen nicht um mich. Ich mache mir Sorgen um die vielen Menschen, die mich fragen, wovon ich denn leben will. Lasst mich bitte in Ruhe, gebt mir Zeit und fragt euch selber: Wollt ihr weiter so leben wie bis jetzt? Wollt ihr wirklich die Jahre bis zur Rente zählen und die Kunde verbreiten: Ich muss noch so und so viele Jahre arbeiten. Habt ihr nicht Homo Faber gelesen? Schon jetzt rechnet ihr, ob ihr euch eine kleine Wohnung leisten könnt: 2030 von euren 43 % Rente. Und dann mache ich mir Sorgen um eure Keller – vollgestopft, zum Bersten bereit – und dann eure Pläne endlich auszumisten, dabei tragt ihr immer neue Sachen aus der Stadt in die Wohnung und dann wieder in den Keller. Ihr habt Angst vor Besitzlosigkeit, dabei erstickt ihr im Besitz.

Es lebt sich leichter in unserer unsicheren Welt mit einem kleinen Rucksack – darin zwei Hemden, eine Hose, ein Paar Socken und Unterhosen. Dann sitzt man einfach in der Calle del Arco und hat unendlich viel Zeit zum Leben. Ich will nicht als Angeber gelten, ich will nur einen anderen Weg aufzeigen. Ich mache mir Sorgen um euch; die nächste Krise halbiert euer Geld und die darauf wird es vierteln. Ich werde euch jedoch nicht fragen, wovon ihr leben wollt. Es steht mir nicht zu, euch dies zu fragen. Vielleicht entdeckt ihr in der Krise den kleinen schmalen Weg, der weg von eurem schäbigen Büro führt und wer weiß, vielleicht führt euch dieser Weg zu mir. Durch unzählige Wiesen, viele kleine Berge und an vielen Feldern vorbei werdet ihr laufen, um irgendwann das kleine Häuschen mit vielen bunten Blumen davor bestaunen zu können. Und dann seht ihr mich, gebückt auf einem kleinen Kartoffelfeld, oder ganz gerade stehend werdet ihr mich sehen, wie ich die Tomatenpflanzen anbinde und dann werdet ihr verstehen, wovon ich lebe.

Unsere 15. Etappe des Jakobsweges war nur 17 km lang. Wir liefen aus Ledigos nach Sahagún. Wir haben heute ein wahres Meer an Zeit, um dieses kleine alte Städtchen zu entdecken und seine Architektur zu bestaunen. Hier lebten einst Christen, Juden und Mauren friedlich miteinander und schufen viele schöne Bauwerke. Morgen wird es wieder hart; wir müssen 40 km laufen, um am Dienstag in León anzukommen.

Ein Kommentar

  1. Ich frage mich, wer dir diese Frage ständig stellt. Bei aller vermutlich angestauten Wut, immer dieselbe Frage gestellt zu bekommen,vielleicht wird sie ja auch gestellt, weil eben nach einem anderen Weg gesucht wird. Wir haben uns an eine gewisse Sicherheit gewöhnt und haben Angst davor, diese „Sicherheit“ aufzugeben und dann vor diesem berühmten „Nichts“ zu stehen, bei dem man nicht weiß, wie es dann weitergehen soll. Eine gute Freundin kam nach sieben Jahren in Kanada zurück nach Deutschland und wird nun von der Familie gedrängt, eine ordentliche Arbeit zu finden (was auch immer das heißen mag). Ich habe ihr empfohlen nach Südamerika auszuwandern und dort ihren Weg weiterzugehen, weil es fernab der hiesigen Erwartungen abläuft und sie sich hier nicht willkommen fühlt. Ich kann sie verstehen und ich kann dich verstehen. Ich mag es, dass ihr euren Weg geht. Lasst euch nicht ärgern von Menschen, die vor lauter Angst ihre Phantasie nicht nutzen können. Es liegt an jedem einzelnen Menschen, aus dem eigenen Gefängnis auszubrechen, dafür muss er dieses jedoch erst als solches erkannt haben. Ich spüre, dass du uns alle anpacken und durchschütteln möchtest, damit wir aufwachen. Du wirst ein paar Menschen auf deinem Wege wachrütteln, da bin ich mir sicher, aber denke dabei daran, dass du deinen Weg für dich gehst. Wenn du das aufrecht und mit einem Lachen tust, werden dir die Menschen eher folgen, als wenn du sie anpackst.

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