Die wilden Pferde

Du suchst gerade nach wilden Pferden in den Weiten von Kasachstan und ich zügle auf dem Jakobsweg die Reste meiner Zügellosigkeit, meiner Wildheit und meiner Maßlosigkeit. Du läufst in die Berge, um die Pferdeherden zu sehen; dann steigst du in die große kasachische Ebene hinab, um nach den Resten des längst ausgetrockneten Aralsees zu schauen. Bist traurig, nachdem du die Überreste von unzähligen Schiffen, eingesenkt im trockenen Sand gesehen hast und verfluchst die Sowjets mit ihren großen Plänen. Sie wollten einst riesige Mengen an Baumwolle produzieren und dafür brauchten sie viel Wasser. Der Aralsee trocknete nach und nach aus und zerstörte die Lebensgrundlage vieler Familien. Die wilden Pferde soll es noch geben, hast du gesagt. Du suchst wieder nach deiner Mutter und ich, je mehr ich mich Santiago nähere, desto weiter bin ich weg von meiner Mutter. Und dann will ich noch weiter, bis nach Finisterre – ans Ende der bis 1492 bekannten Welt. Dort fahren noch Schiffe und grasen die Pferde. Und während wir laufen, töten in Barcelona und in finnischem Turku wieder Menschen Menschen. Und man spricht über alles – über die Fehler der Integration, über die nationale Sicherheit, über die verfehlte Flüchtlingspolitik und jeder beschuldigt jeden. Über die globale und nationale soziale Gerechtigkeit spricht jedoch keiner. Jeder von uns hat irgendwo im Gehirn eine Glück-Unglück-Skala. Die Schiene, die zum Unglück führt, ist endlos lang und man rutscht auf ihr unheimlich schnell nach unten. Die andere Schiene, die uns Glück bescheren kann, scheint viel zu kurz und viel zu langsam zu sein und ihre Verlängerung vermag nur durch Drogen verlängert werden. Der Aralsee ist tot, die wilden Pferde irgendwo versteckt, das Ende der Welt weit weg von der Mutter.
Heute bewältigten wir 30 km. Wir liefen bei idealem Wanderwetter nach einem für uns frühen Start aus San Martín del Camino bis Murias de Rechivaldo. Astorga, eine kleine Stadt haben wir uns erspart und genießen lieber die Ruhe eines kleinen Dorfes. Wir müssen jetzt alle Kräfte mobilisieren. Morgen warten auf uns 40 km durch die Berge, über den gefürchteten Rabanal.

3 Kommentare

  1. Hallo Martin,

    ich bin auf deinen interessanten Blog gestoßen. Finde ihn sehr hilfreich. Vor allem aber deine Erläuterungen und deine tolle Fotos, finde ich mehr als gelungen und sehr empfehlenswert. Danke dafür. Hat mich echt inspiriert.

    Liebe Grüße
    Timea

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