Immer Ende Oktober, als in unseren Bergen der erste Schnee fiel, verließen alle Bewohner unser kleines Dorf Foncebadón und marschierten, eine geschlossene friedliche Gemeinschaft vortäuschend, nach Ponferrada, um dort den harten Winter der Berge zu überstehen. Die Stadt Ponferrada lag in einem Tal, wo das Klima auch im Winter mild war. Sie beschimpften mich immer, da ich nie mitgehen wollte und bezeichneten mich als Feinden der Dorfgemeinschaft. Ich wusste aber ganz genau, was da unten los war. Seit Generationen gingen unsere Leute dahin und wurden von den Städtern verhöhnt und verachtet. Den Jungen und Mädchen blieb nichts anderes übrig als ihre noch schönen Körper an reiche Geschäftsleute zu verkaufen. Die erwachsenen Männer spalteten Brennholz unter unmenschlichen Bedingungen und die Frauen dienten in den Herrenhäusern rund um die Uhr – ohne Schlaf, ohne Bezahlung und ohne ein liebes Wort. Sicherlich, der Winter in unserem Dorf war unerträglich und wir hatten nichts zum Essen, weil das, was wir in der kargen Landschaft über Sommer anbauen konnten, bereits Ende Dezember verbraucht war. Ich blieb jedes Jahr über sechs lange Wintermonate allein. Dann saß ich stundenlang in unserer Capilla de la Soledad – Kapelle der Einsamkeit, wie ich sie selbst nannte und betete, dass der Winter schnell vorbeiging. Ich war hungrig, ich war stur – gewiss, aber ich hatte nichts zu verkaufen. Mein Körper war längst erschlafft, meine Hände würden kein Holz mehr spalten können und mein Gemüt der weiten Berglandschaft weigerte sich, nach unten – in die Stadt – zu gehen. Ich wollte bleiben, ich war nicht fähig, mein Dorf zu verlassen. Von Jahr zu Jahr kehrten mit dem Frühling immer weniger Leute aus der Stadt zurück. Zuerst blieben die Jungen und Starken weg und mit der Zeit kamen auch die Alten nicht mehr. Als der Sommer begann und immer noch keiner aus der Stadt zurückkehrte, wurde mir klar, dass ich der einzige Mensch war, der noch in unserem Dorf lebte. Ich blieb trotzdem. Unser Dorf zerfiel nach und nach. Ich versuchte noch allein, die von der Witterung beschädigten Häuser zu retten, aber was kann ein alter Mann wie ich retten? Ich lebte mehr als zehn Jahre einsam und dann geschah ein Wunder. Die ersten Pilger liefen wieder durch die Hauptstraße unseres Dorfes und schüttelten mit ihren Köpfen, als sie die zerfallenen Häuser sahen. Die Wiederbelebung des Jakobsweg war ein Segen und eine Rettung unseres Dorfes. Ein ganz junges Paar eröffnete hier eine kleine Bar und bot gleichzeitig vier Übernachtungsplätze an. Irgendwann eröffnete eine zweite Bar und eine kleine Herberge. Es kehrte Leben in unser Dorf zurück. Heute sitze ich vor meinem kleinen Häuschen und begrüße freundlich jeden Pilger, der vorbei geht. Wenn jemand Spanisch spricht und sich für unsere Geschichte interessiert, erzähle ich alles, woran ich mich erinnern kann. Ich sehne mich nicht nach alten Zeiten mehr. Ich habe den Wandel der Geschichte verstanden – nach jedem Fall kommt wieder der Aufschwung, der dann ebenfalls abflaut und einen weiteren Niedergang verursacht. Und der Mensch? Der Mensch schaut zu, handelt, beweint die Vergangenheit oder glorifiziert sie. Der Mensch handelt oft unklug, ist verbittert oder blüht auf. Der Mensch schaut oft in die Zukunft, ohne sich über die Gegenwart zu freuen. Ich schaue nicht mehr in die Zukunft – ich habe kaum welche. Ich schaue nun auf mein Dorf und freue mich, dass es lebt.
Heute hatten wir wieder die “seltene Möglichkeit”, auf unseren 28 Kilometern, den spanischen Hochsommer zu genießen. Wir liefen aus Riego de Ambrós nach Cacabelos. Matthias quengelte die ganze Zeit, und ich blieb gut gelaunt bis zum Schluss dieser 21. Etappe auf dem Jakobsweg.