Mein Urgroßvater

Als mein Urgroßvater den Fluss El Miño in Portomarín erreichte, wehte ein heftiger den baldigen Herbst ankündigender Wind. Er saß mit seinen fünf Freunden am Flussufer. Alle hatten nun eine anstrengende Reise hinter sich und warteten auf das Schiff, dass sie in den Hafen von Caminha bringen würde. Von dort aus wollten sie weiter nach Amerika.

Mein Urgroßvater, ein Soldat und vor allem Untertan der Habsburger, führte ein bescheidenes Leben nördlich der Donau und gehörte somit der unterdrückten Minderheit der riesigen Vielvölkermonarchie Österreich-Ungarn an. Er feierte heimlich den Tod von Franz Joseph und öffentlich mit Begeisterung die Ausreise des letzten Kaisers Karl I., eines Kaisers ohne Monarchie (1918), der 1917 in der Schlacht von Karfreit zuließ, dass man Giftgas einsetzte. Seine Tochter, meine Oma, wünschte sich schon als kleines Mädchen von sieben Jahren sehnlichst, Lehrerin zu werden, aber meinem Urgroßvater fehlte das nötige Geld dazu. Enttäuscht von der Monarchie und enttäuscht von der ersten tschechoslowakischen Republik, beschimpfte er all die berittenen Monarchen und Präsidenten, die an der Macht waren. Der erste Präsident der Tschechoslowakei war für ihn der gleiche Clown auf dem Pferd – mit seinem perfekt frisierten Schnurrbart und der Militärmütze mit einem kleinen Dolch wie Franz Joseph oder Karl I.

1925 fasste er den Entschluss aus dem Dienst zu desertieren und verließ mit seinen Freunden seine verschlafene Stadt. Er versprach seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern, dass er sie bald nach Amerika holen würde.

Mein Großvater fuhr auf einem alten Pferdewagen zuerst in südliche Richtung – über Ungarn, Jugoslawien. Er wollte unbedingt das beleidigte verstümmelte Österreich meiden, das in jener Zeit immer noch seine einstige Größe und geistige Aufgeblasenheit beweinte. Dann fuhren sie weiter über Italien, Frankreich, um schließlich die Pyrenäen zu erreichen. Am 18. September 1925 erreichten sie Portomarín – völlig entkräftet, nicht mehr ganz sicher, ob Amerika die Lösung ihrer Probleme war. Dort, am Ufer des Flusses El Miño, auf das Schiff wartend, geriet mein Urgroßvater in die erste Versuchung auf seiner Reise. Eine junge Galizierin, von ihren Eltern verstoßen, bezauberte ihn dermaßen, dass er alles um sich vergaß. Nur seine fünf Freunde konnten ihn zur Vernunft bringen und mein Urgroßvater bestieg dann doch das Schiff, das ihn in den Hafen von Caminha brachte.

Am 28. Oktober erreichten sie Amerika – ein Land, das für meinen Urgroßvater wahrlich kein Traum war. Er begann sehr schnell unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu leiden. Er verabscheute die Ausbeutung der Habsburger Monarchie, er sah mit viel Skepsis der Industrialisierung der jungen Tschechoslowakei zu und dort in Amerika sah er den Prunk der Wolkenkratzer und die Niederungen der menschlichen Gier nach immer mehr und immer höher. Der Crash der New Yorker Börse im Oktober 1929 kam ihm sehr gelegen. Die Massenarbeitslosigkeit, die diesem Crash folgte und die vielen Bettler in jenem gelobten Land wollte er nicht mehr ertragen. Er sehnte sich nach seiner Frau und seinen Kindern, er vermisste sein Leben plötzlich so sehr, dass er das ersparte Geld sofort für die Schiffüberfahrt nach Europa ausgab. Er träumte wieder von seiner kleinen Wiese hinter dem Haus und stellte sich vor, wie er wieder mit seinen Kindern spielen würde und seine zwei Kühe und drei Ziegen auf die Weide treiben würde. Er kehrte nach Hause zurück. Sein Familienglück währte dann zwölf Jahre lang. 1941 wurde er an die Kanonen des zweiten Weltkriegs verfüttert. Was die Habsburger mit ihrem Ersten Weltkrieg nicht geschafft hatten, schaffte Deutschland.

Heute sitze ich an dem gleichen Fluss wie mein Urgroßvater – 92 Jahre später. Vieles hat sich verändert, nur die Sehnsüchte der Menschen nach einem besseren Leben bleiben immer gleich.

Nach neun Stunden erreichten wir heute auf unserer 24. Etappe Portomarín. Wir starteten heute in Samos und liefen durch viele nach Gülle riechende Dörfer. Die Etappe war trotzdem sehr schön, aber die 35 km waren schon anstrengend. Wir haben noch 4 Etappen nach Santiago zu bewältigen, die nicht mehr so lang sind. Etwa 92 km in vier Tagen sind locker machbar. Das Glück dauert an.

2 Kommentare

  1. Hallo Martin, woher hast Du wieder diesen ergreifenden Beitrag!?! Meine Großväter sind auch mit dem Schiff nach Amerika gefahren um Geld zu verdienen. Mein Großvater väterlicherseits wollte nicht mehr zurück kommen, schrieb meiner Großmutter sie möchte doch packen und mit den Jungs nachkommen. Sie wollte aber nicht. So kam er zurück und von dem Geld kauften sie Feld für ein besseres Leben. Dann kam der zweite Weltkrieg, dann der Kommunismus und damit auch die Enteignung. LG

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