In einem traurigen Land

Eigentlich hatte ich vor, dir mein Unglück zu verschweigen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen über mein Seelenheil machst. Ich verbrachte schreckliche drei Tage, während ich einen dunklen traurigen und feindseligen Landstrich durchwanderte. Meine seelische Rettung bestand darin, dass ich mir immer wieder ins Gedächtnis rief, dass ich ein Landstreicher bin und somit jedes Land nur “streiche”, ohne bleiben zu müssen, ohne feste Bindungen eingehen zu müssen. Getrieben durch meine Freiheit lief ich in manchem dunklen schrecklichen Moment so schnell, als wäre ich besessen und in einem anderen Moment lähmten meine Schritte die Grausamkeit dieses nach menschlicher Niederträchtigkeit übel riechenden Gebietes. Aber mach dir keine Sorgen mehr. Heute, am späten Nachmittag ließ ich jenen Landstrich endgültig hinter mir. In einer häßlichen Kirche mahnte mich eine Inschrift mit der Frage, was ich Gutes auf meinem Weg hinterlasse? Nicht Gutes hinterließ ich, nicht mal ein Lächeln konnte ich auf die Gesichter der Menschen zaubern. Ich ließ sogar einen alten Bettler abblitzen, indem ich seine Bitte mit einem harten Nein ablehnte. Ich traf Menschen, fast vollständig mit gelben und roten Schuppenflechten bedeckt. Die ungesunde blasse Haut konnte man darunter nur erahnen. Ihre blauen kleinen Augen schauten stets teilnahmslos in die Gegend, sie beachteten mich nicht. Sie grüßten mich nicht mal. Sie versprühten nur ihre milchige Bösartigkeit. Der ganze Landstrich ist vollständig bedeckt mit allen nur erdenklichen Mistarten. Der Kuhmist liegt überall auf den Wegen, dabei lassen diese Menschen ihre Tiere eingepfercht in kleinen Ställen in den eigenen Exkrementen ersticken. Sie treiben sie nicht auf die Weiden. Die Weiden sind vergiftet von der Gülle der Tiere. Vorgestern beobachtete ich, wie sie die Tiere töten. Sie besitzen keine Gewehre, um die Tiere zu töten. Vier Männer mit eisernen Beilen brachen auf einmal mit einem Hieb der Kuh ihre Beine und als das Tier schreiend auf den Boden sackte, lachten alle bösartig und jubelten wie Sieger. Dann hauten sie mit den Beilen auf den Kopf des Tieres, bis der Schädel völlig zertrümmert war. Dann kamen die Ratten – das Blut riechend. Überhaupt Ratten, sie sind überall. Sie springen die jungen Kälbchen an und reißen ihnen kleine Fleischstücke aus den Bäuchen. Alle Kälbchen, die ich sah, hatten diese blutenden eitrigen Löcher. Zähne fletschende Hunde gibt es hier überall. Sie bewachen die Armut dieser Menschen. Als ich wegen des Gebells eines solchen wütenden Hundes erschrak, lachte ein bösartiges Weib schallend vor ihrem zerfallenen Haus. In den kleinen Orten stehen kleine Kirchen, meist geschlossen, unbrauchbar sind sie. Lustlos aus bloßem Pflichtgefühl erbaut, strahlen sie nichts aus. Sie sind grau, vermoost wie die Menschen. Das schlimmste aber, was ich sah, waren die Kinder. Gleich fiel mir auf, dass diese düsteren Orte keine Spielplätze für Kinder haben. Ein kleiner Bub erzählte mir, dass die schwachen und ungesunden kleinen Kinder in die Güllegrube geworfen werden, in der sie nach nur zwei Tagen spurlos zersetzt sind. Die gesunden Kinder dürfen sechs Jahre ihre Kindheit in der von der Gülle stinkenden Luft genießen. Dann werden sie zum Arbeiten gezwungen. Mit elf, zwölf Jahren, nachdem sie ihre Fähigkeit zum eigenen Willen entwickelt haben, flüchten sie vor ihren grausamen Eltern in die Städte, obwohl sie wissen, dass sie dort nicht viel besser behandelt werden. Man sieht diese flüchtenden Kinder in den Wäldern. Sie betteln die Landstreicher mit ihren verkrüppelten Händen gestikulierend an. Dabei stoßen sie unverständliche Laute aus, unfähig zu sprechen. Sie kennen nur die Rohheit ihrer Eltern und die Laute der Tiere. Ich nahm einen etwa 10-jährigen Jungen, dessen rechtes Bein amputiert war, auf meinen Rücken und lief mit ihm durch diese dunklen Wälder zu einem Kloster, wo ich ihn absetzte. Das war meine einzige gute Tat, die ich in dieser Gegend machen konnte. Dieser Landstrich trübte zuerst meine Gedanken und ich spürte, wie er immer tiefer in mir die dunkelsten Seiten aufwühlte. Ich litt in dieser rohen Gegend alles noch einmal durch, was ich früher in der Welt gelitten hatte. Mein ganzes Inneres war mit finsterer Bösartigkeit durchzogen. Ich schaute wie die Pferde dieser Leute – stumm, bewegungslos – gegen eine Mauer. Ich lief weiter, immer schneller. Irgendwann lichtete sich der mit Efeu bewachsene Wald und die Häuser waren nicht mehr so verwahrlost wie die Häuser jener schuppigen Menschen. Ich kam in einer Stadt an, die sich stolz “Königspalast” nannte. Ich fand keinen Palast vor und selbstverständlich keinen König. Der König bereute sicherlich schon vor Jahrhunderten, dass er sich einen Palast in dieser Gegend bauen ließ und flüchtete von hier – vor diesem Volk. Selten flüchten Könige vor ihrem Volk. Ich lief weiter und die Dörfer wurden immer schöner. Nach drei Tagen dieses Albtraums lächelte mich zum ersten Mal eine alte Frau an. Ich war gerettet. Ich dachte oft an dich, an dein Lachen, das ich vermisste. Ich kam schließlich durch. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich lebe und meine Seele klärt sich wieder.

Heute wanderten wir 30 km aus Palas de Rei nach Arzúa. Das war unsere 26. Etappe. Wir stehen vor den Toren von Santiago. Noch 40 km. Wir werden sie gemütlich angehen. In zwei Tagen kommen wir in Santiago an. Die Menschen sind immer noch seltsam, aber wir sehen schon das Licht.

Ein Kommentar

  1. deine beschreibung des beschwerlichen wegabschnittes ist beeindruckend und berührend. jetzt habt ihr den größten teil der reise schon geschafft. ich wünsche einen entspanntes ankommen, weiterhin ein gutes reisen bis dorthin. das ging ja jetzt gefühlt, doch recht schnell, wie ihr diese enorme strecke gepilgert seid. respekt. 🙂

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