Und dann stehst du vor den Toren von Santiago und denkst für einen kurzen Moment, in die Stadt einzuziehen. Dann wärest du jedoch gleich am Ende deines Weges. Du würdest dich übernehmen, wenn du weiter laufen würdest und könntest deinen Einzug vor Müdigkeit nicht genießen. Du würdest dein Ziel viel zu schnell erreichen und dann würdest du dich ärgern, dass du gerade jetzt so ungeduldig wurdest, obwohl du dich den ganzen langen Weg in Geduld übtest. Du handelst dann doch klug und verzögerst das Ende, wie du es so oft bei einem Orgasmus getan hast. Du musst nicht eilen, da du nicht zu den armen Kreaturen gehörst, die am Montag in verstopften Straßen zur Arbeit hetzten werden. Du befindest dich auf dem Wendepunkt deines Lebens. Du weißt ganz genau, dass du keinen Halbmarathon unter 1:30 schaffst, du ahnst, dass du immer kürzer schlafen wirst. Du wirst kaum Drogen zu dir nehmen und die Orgasmen werden bald immer seltener. Du bist mit deinen körperlichen Kräften ganz oben, letztes Mal in deinem Leben vielleicht; und nun wird dir dein Körper immer wieder seinen Dienst verweigern und du – ein Mensch – wirst nach einer anderen Lustart streben müssen. Nur wenige Menschen werden von dem Verfall des Körpers unbeeindruckt bleiben; vielleicht nur diejenigen, die weit gelaufen, die klug gelaufen sind, die nicht in einer starren Komfortzone geblieben sind, die alles abgeworfen haben, was sie behinderte.
Dann wirst du vor den Toren von Santiago sitzen, du ahnst schon die Stadtmauer hinter den Hügeln und du bleibst trotzdem sitzen. Du ruhst dich im Schatten der Eukalyptusbäume aus, du genießt den Tag und bist bereit. Du bist vorbereitet, zum letzten Mal, auf dem Höhepunkt deiner körperlichen Kräfte, morgen gegen Mittag mit einem frischen Lächeln Santiago de Compostela zu erreichen. Ab Morgen bist du ein Mensch, der körperlich altert und bist gleichzeitig am Anfang deiner mentalen Kräfte, die es nun zu entwickeln gilt. Und wenn du dies schaffst, wird es dir gelingen ein wertvolles Leben zu leben – für dich und deine Mitmenschen.
Unsere vorletzte Etappe (27) war 19 km lang. Wir liefen aus Arzúa nach O Pedrouzo. Wir liefen langsam und genossen noch den Weg. Natürlich sind wir ein wenig müde, aber bereit, morgen in aller Frische Santiago zu erreichen. Dort verbringen wir zwei Nächte und dann warten auf uns noch 90 km bis Finisterre.