Meine Oma auf dem Pilgerweg des Lebens

Eigentlich war meine Oma eine viel ausdauernde Pilgerin als ich. Sie musste als Kind und junges Mädchen tagtäglich eine Kuh und zwei Ziegen auf die Weide führen und dabei lief sie immer sehr weit, ihren Träumen nach. Sie wollte Lehrerin werden, aber damals in den 30er Jahren hatten ihre Eltern kein Geld für ihre Ausbildung. Sie heiratete meinen Opa, einen jungen Dozenten an der Hochschule für Forstwirtschaft. Er gründete die lokale kommunistische Partei in ihrer Kleinstadt und meine Oma konnte dann doch eine Ausbildung zur Sekräterin machen. Er kämpfte viel für die Gerechtigkeit und feierte wilde Partys im Haus seiner Mutter. Meine Oma, immer mit allem und allen zufrieden, half mit, die abgespielten Schallplatten, die Opa um Mitternacht aus dem Fenster warf, nächsten Tag in eine Tüte wieder einzusammeln. Als mein Opa nach 1968 merkte, dass der Kommunismus einen falschen Weg eingeschlagen hatte, kämfte er weiter. Er regte sich auf und wütete und schließlich starb er an einem Herzinfarkt. Meine Oma heiratete zum zweiten Mal. Diesmal einen Lehrer für slowakische und deutsche Sprache und Sport, einen gebildeten aber geizigen Mann. Meine Oma pilgerte weiter durch das Leben. Nun wurden keine wilden Partys mehr gefeiert. Es wurde gespart. Für meine Oma begann nach der Zeit der Bohème eine Zeit der Sparsamkeit und Selbstversorgung. Das war die Zeit, wie ich sie kenne. Stundenlang arbeitetete sie im Garten und ging raus in die Natur, um Haselnüsse, Pilze, Waldbeeren und Kräuter zu sammeln. Immer zufrieden und immer glücklich zeigte sie sich stets für mich und ihre Mitmenschen. Sie war dankbar, weil sie trotz des Geizes ihres Mannes reisen konnte. Er nahm sie mit in die DDR, wohin er Jugendreisen als Dolmetscher begleitete. Sie erzählte mir von diesen Reisen mit viel Begeisterung. Nur manchmal fügte sie traurig dazu, dass sie so gerne auf den Fernsehturm in Ostberlin gehen würde, aber der Eintritt zu teuer war. Sie fuhr mit ihrem Mann nach Jugoslawien, in die Türkei und nach Griechenland, alles Reiseziele, von denen ein Mensch in der damaligen Tschechoslowakei nur träumen konnte. Sie zeigte mir die mitgebrachten Muscheln, Seeigel und Seesterne und erzählte mir von der Akropolis und dem Meer, das ich nicht kannte. Ich durfte nur zum Schwarzen Meer nach Bulgarien und Russland fahren. Meine Oma schlief auf ihren Reisen immer in ihrem weißen Lada und nur manchmal sagte sie ganz enttäuscht, dass sie auf ihrer Sommerreise nur einmal einen Kaffee am Strand trinken durfte.Meine Oma starb sehr alt, zerstochen durch Spritzen von Leuten, die sich Ärzte nennen. Sie starb in einer schäbigen Anstalt, die sich Senioreinheim nennt. Der Geiz ihres Mannes war die Mitursache ihres bitteren Endes. Er nahm das ganze Geld, was angespart wurde, wortwörtlich mit ins Grab. Der Sohn ihres zweiten Mannes aus erster Ehe ließ sie nach einem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus nicht mehr in ihr Haus.Meine Oma war bescheiden. Sie war genügsam und versuchte immer das beste aus ihrem Leben zu machen. Sie jammerte nie, sie beklagte sich nie. Sie war die größte Pilgerin des Lebens, die ich kenne. Und so musste ich oft an sie denken, als ich an dem norwegischen Mjøsasee pilgerte.

Etappe 6: Hamar – Moelv (33 km)Beim Frühstück regnete es in Strömen. Es sah sehr schlecht aus. Als wir aber um 9.30 Uhr aufbrachen, ließ der Regen nach. Wir konnten bei idealem Wanderwetter unser Tagesziel erreichen. Heute übernachten wir in einer Hütte mit eigenem Badezimmer auf dem Campingplatz Steinvik. Morgen laufen wir nach Lillehammer und feiern den Geburtstag von Matthias.

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