Plötzlich platzt ein etwas von sich überzeugter Herr in den gemütlichen Frühstücksraum mit brennendem Feuer im Kaminofen, ein wenig vorlaut, selbstsicher und auf sein Recht, alles haben zu können, pochend. Er setzt sich zu uns an den Tisch, damit er eine arme Sau findet, der er von seinem tollen Urlaub in Norwegen erzählen kann. Er stellt auch Fragen, obwohl ihn unsere Antworten kaum interessieren. Er, der geile Bock auf dem Motorrad, bringt jeden Tag so unheimlich tolle Leistungen. Er erzählt von seinen irrelangen Fahrten durch die tollsten Schluchten und Wälder. Er schwärmt von den Gletschern, die er gesehen hat und von den Highlights Norwegens, die er mit seinem selbstverständlich besten und schnellsten Motorrad in nur kurzen Zeit erreichen kann. Und dann fragt er, was unsere Highlights auf dem Pilgerweg sind… Wir geben ihm keine Antwort, versuchen die Frage zu umgehen, da wir in dem Moment kaum etwas sagen können. Wir haben weder den höchsten Berg bestiegen noch den größten Gletscher gesehen. Wir besitzten kein Auto und kein Motorrad und sind daher sehr langsam.
Nun bekommst du, gnädiger Herr, meine Antwort. Ich fand dich ziemlich unsympatisch mit deiner lauter Fresse und dein Motorrad ziemlich langweilig. Auch in deiner Motorradmontur sahst du in jenem Frühstücksraum mit Kaminfeuer wie ein Depp aus.
Wir hatten keine Highlights. Wenn schon dann Höhepunkte, so viele, dass du davon nur träumen kannst – eingepfercht in dein Lederzeug. Ein Pilger hat sonst nicht viele Höhepunkte. Er muss geduldig sein, langsam voranschreitend – und viele Male ist für den Pilger ratsamer, die Höhepunkte links liegen zu lassen, um die Kräfte zu sparen. Ein Pilger sieht drei Tage lang vielleicht nur ein Tal, jedoch ist das Erlebnis umso größer, da er dieses Tal in sich einatmet, viele Male sitzen bleibt und die kleinen Veränderungen des Lichts beobachten kann. Ein Pilger hat Zeit zum Denken. In vielen Stunden seiner Wanderung muss er nicht auf den Verkehr achten, er kann sich kleine Zerstreutheiten erlauben und die Gedanken einfach schweifen lassen. Auf dem Weg sind die vielen Waldbeeren seine kleinen Höhepunkte. Zum ersten Mal im Leben reife Preiselbeeren zu esssen, ist eine wertvollere Errfahrung als den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Ein bequemes Bett zu finden, ein authentisches Abendessen nach einem langen Tag zu genießen, bringt mehr Intensität ins Leben eines Menschen als sich stundenlang auf dem Motorrad den Arsch platt zu drücken, ständig auf den Verkehr achten zu müssen und dann irgendwo für zehn Minuten bei einem tollen Gletscher anzuhalten. Gnädiger Herr, tolle Gletscher und tolle Schluchten kann ich mir im Internet anschauen, wenn mich mein Pilgerpfad nicht dahin führt. Das entschleunigte Leben, die kleinen Höhepunkte des Lebens, die Waldfrüchte bekomme ich nur dann, wenn ich ein Land zu Fuss erlebe. Und einen Orgasmus bekomme ich auch nicht auf dem Motorrad sitzend. Und schon gar nicht bei oder auf einem Gletscher.
Etappe 16: Oppdal – Havdal (27 km)
Wunderbares Wetter. Ein langer, jedoch leichter Weg. Wir schlafen heute in einem Wanderheim und weit und breit keine Einkaufsmöglichkeiten. Die Hausherrin kocht aber etwas heute Abend. Da sind wir gespannt, da unsere Vorräte kläglich aussehen: 30 Erdnüsse und 15 getrocknete Aprikosen.